Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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dabei verwahrlost vor, wenn er sie mit früher verglich, wo sie unter dem Auge der sorgenden Mutter aufgewachsen. Er sah ein, daß er gefehlt hatte, sich seiner eigenen Familie so ganz zu entziehen, und wollte das jetzt durch verdoppelten Eifer und unnachsichtige Strenge wieder gut machen. Dadurch entstand Streit und Unfrieden mit der Haushälterin, der ernstlich zu begegnen er von zu gutmüthigem, schwankendem Charakter war. Sein häuslicher Frieden aber, um dessentwillen er doch eigentlich Alles ertrug, wurde dadurch nur noch mehr und mehr verbittert. Ein verzweifelter Entschluß war es endlich, der ihn dazu trieb, mit der Erinnerung an die verstorbene Gattin noch so warm im Herzen, auf’s Neue zu heirathen, und seinen Kindern wieder eine wirkliche Mutter zu geben. Möglich, daß er auch nur auf diese Art glaubte sich der ihm lästig werdenden Wirthschafterin entledigen zu können.
Olbers, übrigens selber schon in den reiferen Jahren, war vernünftig genug, zu seiner zweiten Lebensgefährtin eine nicht mehr ganz junge Frau zu wählen. Diese, eines Arztes Wittwe, zog ihn zuerst durch ihr stilles, bescheidenes Wesen an, und als er sie näher kennen lernte, fühlte er sich bald fest überzeugt, daß sie ihm selber eine brave Gattin, seinen Kindern eine Mutter, seinem Alter eine treue Pflegerin, seinem Hauswesen eine tüchtige Wirthin werden würde.
So geheim er übrigens diese seine Absichten, gehalten haben mochte, hatten die Nachbarinnen doch nur zu bald gemerkt, um was es sich hier handele. Sie säumten denn auch natürlich nicht, vor allen Dingen die Haushälterin von der vermutheten Thatsache in Kenntniß zu setzen, die jedenfalls am Stärksten dabei interessirt sein mußte. Diese auch, die recht gut wußte, daß mit einer neuen Frau im Hause ihr Regiment dort ein rasches Ende nehmen würde, war außer sich und machte ihrem Herzen in allen möglichen Ausrufungen und Befürchtungen Luft. „Die armen Kinder bedauere sie nur am Meisten, denn sie selber mache sich, wie sie meinte, auch nicht so viel aus der Verbindung. Nur die Kinder wären zu beklagen, die bis jetzt wie im Himmel gelebt hätten, und nun ganz plötzlich unter die eiserne Ruthe einer Stiefmutter kommen sollten, Sie wüßte, was es hieß, eine Stiefmutter im Hause haben, sie hätte das schon aus tausend und tausend Büchern gelesen, und wenn Herr Olbers, der übrigens sein eigener Herr wäre und thun und lassen könne, was er wolle, solcher Art blind und taub in sein eigenes Schicksal hineinrenne, so möge er denn auch nachher sehen, wie er damit fertig würde. Das Einzige, was ihr jetzt zu thun übrig bleibe, sei, die armen Kinder so viel als möglich auf das was sie erwarte, vorzubereiten. Könne sie ihnen später noch helfen und beistehn, so solle das mit Freuden und mit Aufopferung aller ihrer Kräfte geschehen. Sie sei das ja allein der Seligen schuldig.“
Die Kinder spielten eben in ihrer Stube, als Tante Louise, wie die Haushälterin gewöhnlich in der Familie genannt wurde, von der Freundin zurückkam, von der sie die erste Nachricht über die Verlobung erhalten hatte.
„Wißt Ihr die Neuigkeit schon?“ sagte die Wirthschafterin, als sie zu ihnen in’s Zimmer trat, „Ihr bekommt eine Stiefmutter.“
„Eine Stiefmutter?“ rief Franz erschreckt. –
„Eine Stiefmutter?“schrie Lisbeth. „Wir wollen keine Stiefmutter, Tante Louise, wir wollen Dich behalten. Eine Stiefmutter schlägt und kneipt uns, und giebt uns nicht satt zu essen.“
„Was sollen wir mit einer Stiefmutter?“ klagte auch Franz, „daß es uns etwa geht, wie der armen Geldmarie?“[1]
„Oder wie Aschenbrödel[1] und Schneeweißchen,“[1] setzte Lisbeth hinzu,
„Oder daß sie mir gar den Kopf mit dem Kistendeckel abschlägt,“ rief Franz, „wie es in der schönen Geschichte vom Wachholderbaume[1] steht, die Du uns so oft vorgelesen hast? – Aber dann würde ich auch singen:
„Meine Mutter, die mich g’schlacht,
Mein Vater, der mich aß,
Mein’ Schwester, das Marlenichen
Sucht alle meine Beenichen,
Bind sie in ein seiden Tuch,
Legt’s unter den Wachholderbaum.
Kiwit, Kiwit,
Was für ein schöner Vogel bin ich!“
und wenn die böse Stiefmutter dann vor die Thür käme, würf’ ich ihr den großen Mühlstein auf den Kopf, daß sie in tausend Stücken ging.“
„Nun, so schlimm darf sie es schon nicht machen,“ sagte die Wirthschafterin, „das leidet die Polizei gar nicht. Und dann brauchtet Ihr auch nur zu mir zu kommen; ich wollte Euerem Vater schon reinen Wein einschenken.“
„Aber ich mag keine Stiefmutter,“ weinte Lisbeth, „dann bete ich lieber zu Gott, daß das Himmelsmütterlein zu mir kommt und mich fortnimmt mit sich, wie wir es in der „schwarzen Tante“ gelesen haben.“
Die Kinder weinten jetzt Beide und Tante Louise tröstete sie und sagte ihnen, daß sie immer, wenn sie die Stiefmutter auch fortschicke, dann und wann zu ihnen kommen und sie besuchen wolle. Und wenn sie die Stiefmutter schlecht behandele, sollten sie es ihr nur sagen; sie wolle schon dafür sorgen, daß es der Vater erführe und ihnen kein Unrecht geschähe. Jetzt aber sollten sie sich noch nichts merken lassen, sonst bekäme sie, die Tante Louise, Ausgezanktes darüber, und sie habe es doch gut mit ihnen gemeint.
Hätte sich Olbers mehr um seine Kinder und sein Hauswesen bekümmert, so würde er wohl gesehen haben, daß den Kleinen etwas auf dem Herzen läge, was sie ängstigte und drückte. Aber die neue Heirath ging ihm auch im Kopf herum, und mit seinen anderen Geschäften blieb ihm keine Zeit, auf das zu achten, was dem Vater immer das Wichtigste bleiben sollte, will er nicht später schwere Verantwortung auf sich nieder ziehen: das Wohl der eigenen Kinder. Nur zu empfänglich für fremde Eindrücke ist des Kindes Herz, und die zu überwachen, daß sie wohlthätig und segensreich darauf einwirken, und nicht bösen Samen in die junge Brust tragen, sollte das Hauptziel und Augenmerk der Aeltern sein. Wie häufig aber wird gerade das von ihnen vernachlässigt, und das ganze Leben des Kindes in die Hand gleichgültiger Personen gelegt. Nur daß die Kleinen artig sind, verlangen sie von denen, und wie oft auch noch mehr ihrer selbst, als der Kinder wegen; an das Andere denken sie gar nicht.
Heinrich Olbers hatte indessen wirklich um die junge Wittwe geworben und das Jawort erhalten; auch eine glückliche Wahl für sich und die Seinen getroffen, denn Sabine, wie seine Braut hieß, war eine brave, wackere Frau und sich des schweren Berufes, dem sie sich unterzog, die Mutter fremder Kinder zu werden, vollkommen bewußt. Mit sorgender Liebe hoffte sie sich die Herzen der Kleinen bald zu gewinnen, und wenn sie ihnen auch nicht die verstorbene Mutter so vollständig wieder ersetzen konnte, sollten sie in ihr doch eine treue Freundin, eine zweite Mutter finden.
Sabine hatte gewünscht, die Kinder vor ihrer Verheirathung einmal zu sehen, und mit ihnen zu sprechen, und Olbers befahl der Wirthschafterin eines Nachmittags, die Kinder rein anzuziehen. Sie waren ihm noch nie so schmutzig und vernachlässigt vorgekommen – weil er eben gerade heute besonders auf sie achtete.
„Und wozu wollen Sie heute, an einem Sonnabend, mit den Kindern Besuche machen?“ frug die Wirthschafterin, die sich den Grund recht gut denken konnte, und damit auch ihre letzte Hoffnung von einem möglichen Nichtzustandekommen der Verbindung schwinden sah. „Es ist schon drei Uhr, und bis morgen früh sind sie wieder schmutzig.“
„Dann müssen sie wieder rein gekleidet werden, Louise,“ sagte Olbers ernst. „Ich wünsche überhaupt nicht, daß ich die Kinder noch einmal in einem solchen Zustande finde. Uebrigens,“ fuhr er rasch fort, als er sah, daß die Wirthschafterin etwas darauf erwidern wollte, „will ich Ihnen hiermit gleich etwas anzeigen, das von heute an doch kein Geheimniß mehr bleiben kann. Ich bin mit der verwittweten Frau Sabine Helbig verlobt und werde heute über vier Wochen Hochzeit halten.“
„Heute über vier Wochen schon?“ rief Louise erschreckt.
„Ja, allerdings,“ lautete die ernste Antwort. „Es versteht sich von selbst,“ fuhr Olbers dabei freundlicher fort, „daß die neue Hausfrau dann auch das Hauswesen übernehmen wird. Damit Sie aber indessen nicht außer Brod sind, und Zeit behalten, sich nach einer andern passenden Stelle umzusehen, werde ich Ihnen indessen bei einer Verwandten einen Platz verschaffen, in dem Sie wenigstens so lange bleiben können.“
„Ich danke Ihnen, Herr Olbers,“ entgegnete aber etwas schnippisch und beleidigt Mamsell Louise – „man ist auch nicht blind, man hat seine Augen und kann selber sehen. Der Herr Olbers
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 632. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_632.jpg&oldid=- (Version vom 24.12.2019)