Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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No. 48. | 1855. |
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Die Stiefmutter.
In dem freundlichen, von weiten Laubgängen durchzogenen Garten eines kleinen Landhauses lustwandelte eine hohe, stattliche Frau, deren ernster wenn auch milder Blick reiferes Alter verrieth, als die sonst noch fast frischen und jugendlichen Züge wohl eingestehen mochten. Die Jahre schienen kaum ihre Spur auf dem lieben Antlitz zurückgelassen zu haben, und ein junges Mädchen von etwa siebzehn Jahren, das jetzt auf sie zusprang und sie küßte und „liebe Mutter“ nannte, hätte fast eben so gut für eine jüngere Schwester gehalten werden können.
„Denke Dir nur, Mama,“ rief die Letztgekommene, während die Mutter ihr liebkosend die vollen, kastanienbraunen Haare zurück strich und ihre Stirn küßte, „denke Dir nur, unser Nachbar Pahlmann wird wieder heirathen, und die arme Adele bekommt jetzt eine Stiefmutter!“
Eine leichte Wolke, wie ein zuckender Schmerz, schoß über die lieben offenen Züge der Mutter, aber wie der an der Sonne vorüberstreichende Schatten schwand sie wieder und ruhig sagte sie:
„Arme Adele? – Weshalb bedauerst Du sie? – Ist es nicht viel besser für die Kinder, wenn sie wieder eine Mutter in’s Haus bekommen, die sorgsam das Hauswesen in Ordnung hält und der Wirthschaft ein Ende macht, die gemiethete Leute die letzten Jahre dort geführt?“
„Das schon, liebe Mutter,“ erwiderte Sabine, wie das junge Mädchen hieß, etwas verlegen, „aber eine Stiefmutter.“
Die sanften Augen der Frau trübten sich immer mehr, sie faßte der Tochter Hand und sagte freundlich, doch mit recht ernst zum Herzen dringendem leisen Ton:
„Und so hat Alles, was ich Dir über das häßliche Vorurtheil bis jetzt gesagt, und wovor ich Dich gewarnt habe, liebes Kind, doch nichts gefruchtet, und Du plauderst nach, was Du die Menge plaudern hörst. Leider schmücken die Verfasser der Kinder- und Jugendbücher ihre Erzählungen nur zu gern mit den billigen Schrecknissen einer bösen Stiefmutter aus, die arme Kinder peinigt und quält, und in unserer Zeit schon den Namen einer Stiefmutter mit dem einer recht schlechten bösen Frau ganz gleichbedeutend gemacht hat. Die Herzen der Kinder werden dadurch von frühester Jugend auf mit Haß und Furcht vor allen Stiefmüttern erfüllt, und nimmt das Schicksal ihnen die eigene Mutter und bringt der Vater eine zweite Frau in’s Haus, dann hat die Aermste, mag sie es so gut auch mit den Kindern meinen, wie sie will, gleich von Anfang an ein furchtbares Vorurtheil zu bekämpfen, das ihr entgegensteht, und nur zu oft all ihre Müh’ und Liebe zu Schanden macht. Komm, Sabine,“ fügte sie dann hinzu, als das junge Mädchen verlegen still schwieg. „Setz Dich zu mir hier auf die Bank, ich will Dir eine Geschichte erzählen aus früherer Zeit – vielleicht ändert das, wenn irgend etwas, Deinen Sinn.“
Sabine folgte der Mutter zu der Gartenbank unter dem blühenden Fliederbaum. Dort, mit der Rechten die Hand der Tochter gefaßt, den linken Ellbogen auf den niedern neben ihr stehenden Tisch, und das Haupt in die linke Hand gestützt, während die dunklen schwermüthigen Augen sinnend und der alten Zeiten gedenkend den Boden suchten, begann sie mit ihrer klaren, so zum Herzen sprechenden Stimme in folgender Weise:
„In dem kleinen Städtchen Wendheim am Rhein lebte ein wackerer, ziemlich bemittelter Kaufmann, den ich Olbers nennen will, in so freundlichen und glücklichen Familienverhältnissen, wie es sich ein Mensch nur wünschen kann. Seine Frau hatte ihm in sechsjähriger Ehe zwei Kinder, einen Knaben und ein Mädchen geboren. Das Mädchen war aber erst sieben, der Knabe fünf Jahr alt, als ein Nervenfieber, das überhaupt in der Stadt wüthete und zahlreiche Opfer forderte, auch in diesen friedlichen Kreis guter Menschen seine Schrecken sandte. Die Mutter erkrankte und starb trotz jeder Sorgfalt, jeder Pflege schon nach wenigen Tagen.
Für den Gatten wie die Kinder begann jetzt eine recht schwere, traurige Zeit. Die Mutter hatte sich des ganzen Hauswesens so angenommen gehabt, so jedes Einzelne überwacht und geleitet, daß sie nicht allein in den Herzen der ihr theueren Wesen schwer vermißt wurde, sondern auch in jeder Kleinigkeit im Hause selber fehlte. Für den zurückgebliebenen Gatten freilich hatte alles Andere, mit dem furchtbaren Schlag, der ihn in dem Verlust seines Weibes betroffen, seine Bedeutung verloren. Nur die nothwendigsten Arbeiten zu leiten, nahm er eine Haushälterin in seine Familie auf, ja überließ dieser sogar die Sorge für seine Kinder. In fast übermäßigem Eifer für seine Geschäfte schien er indeß Betäubung zu suchen, und den herben Schlag, der ihn getroffen, durch unausgesetzte Arbeit zu ertödten – wenigstens auf kurze Zeit zu vergessen.
Drei volle Jahre hatte er es solcher Art getrieben. Wie sich aber der Schmerz um den erlittenen Verlust mit der Zeit abstumpfte, wandte sich seine Aufmerksamkeit auch wieder mehr den häuslichen Verhältnissen, seinen Kindern, seiner eigenen Bequemlichkeit zu. Da fand er denn freilich bald, daß nicht Alles so war, wie es eigentlich sein sollte. Es war ungemüthlich bei ihm geworden; er fühlte sich fremd in den eigenen Räumen. Die Kinder selber kamen ihm
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 631. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_631.jpg&oldid=- (Version vom 20.11.2023)