Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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von Menschen ausgestoßen. So mögen wohl die Hunnen gesprochen und gelärmt haben. Eine solche Witinne rückt oft so im Schneckengange fort, daß ihre Bewegung kaum zu bemerken sein dürfte, da das Ungeheuer, zwar mit einem Segel versehen, bei uns doch zu wenig Strömung und Tiefe findet. Die Argonauten der alten Griechen, wie unvollkommen ihre Fahrt auch noch gewesen sein mag, hatten doch den Vortheil, daß sie ihr Schiff stellenweise tragen konnten, aber Herkules selbst, der sich bekanntlich unter ihnen befand, würde es wohl haben bleiben lassen, eine Witinne von Kowno auf seine Schultern zu nehmen. Die längsten derselben dürfen in unsern Hafen nicht hinein, da sie einen Raum von vier bis fünf der größten Meerschiffe ausfüllen würden. Einige der mittleren liegen eben vor uns, und wir können sie und ihr Bewohner sogleich ganz gemächlich in Augenschein nehmen.
Das ist ein Bauwerk der sorglosesten, lockersten Naturart; alles was man daran Kunst oder vielmehr Handwerk nennen könnte, ist kaum zusammengenagelt, nur geschoben, und doch hält es vor und erreicht vollständig seinen Zweck, aber ohne jede Spur von Plan, von Verhältnissen, geschweige von durchgehender Symmetrie. Das Ganze hat zu seiner Unterlage einen halbangefangenen Koloß von Kahn oder Prahm, der aber fast überall durch bloßes Floßwerk unterbrochen ist, dessen Balken weit auseinanderstehen, so daß Flußwasser massenhaft hervorquillt, und man bei jedem Fehlschritt mitten auf dem Schiffe sehr bequem ertrinken kann. In der Mitte ist ein Ständer eingerammt. Er ist der höchste von allen andern, und der eigentliche Träger der gesammten Bedachung. Die andern Pfeiler sind bald hoch, bald niedrig, so daß auch das Dach zwar in der Mitte einen Höhepunkt hat, dann aber nach beiden Seiten höckerartig abläuft. Von Fenstern und Thüren läßt sich in diesem langgestreckten Behälter, aus Bretern und Latten gefügt, dessen Dach Bastmatten und Baumrinden überkleiden, gar nicht sprechen, sondern diese seinsollenden Fenster und Thüren sind kleine wie große offen gelassene Stellen, viereckte Löcher, aus denen hier und da wohl ein Dzimkenkopf hervorguckt; was in diesem Breterwulst in gesteigertem Grade so aussieht, wie wenn im Kleinen eine Gluckhenne sich aufgebauscht hat, und aus ihrem Gefieder da und dort ein Küchelköpfchen vorblickt. Die Luxusparthie einer solchen Witinne ist nach dem einen Ende, dem etwaigen Steuer zu, die Wohnung des Kapitains, d. h. eines polnischen Juden mit einem langen Bart, zweien Seitenlocken, die bis auf die Schulter fallen, einem bis zu den Schuhen langenden schwarzen Rock und einem langen Stecken in der Hand. Der Zimmerer hat an diesem Theile der ganzen Holzjurte alle Kunst bewiesen, die ihm nur zu Gebote stand. Er hat eine Art Stube hergerichtet, deren Wände baufällig nach allen Seiten her schief ragen, mit einem angeschmauchten Guckfenster versehen, von der Größe eines kleinen Rasirspiegels. Auch hier ist der Boden zum Theil bloßes Floß, rohe Baumstämme sind zusammengebunden, das Wasser dringt hier wie in die Spelunken der Dzimken fortwährend ganz gemüthlich ein und muß einige Male des Tages und der Nacht ausgepumpt werden. Die Mannschaft hat sich demnach, wie die Sclaven auf manchen Galeeren, durch Pumpen mühsam am Leben zu erhalten, um nicht plötzlich zu ertrinken. Die Dzimken nehmen solchen Uebelstand hin, als verstände er sich ganz von selbst und wäre dem gar nicht abzuhelfen. Sie betrachten den Tod überhaupt sehr gleichgiltig, und sind in ihrer vegetirenden Existenz, die dennoch einen höchst anstelligen Instinkt hat, so sorglos, daß mancher in der Dunkelheit, zumal unter der Nachwirkung des Branntweins, in die Zwischenräume der Floßhölzer tritt und rettungslos in die Tiefe des Wassers sinkt. Um so mehr ist der Heroismus ihrer Schiffsherrn zu bewundern. Man pflegt zu sagen, der Jude gehe nicht auf’s Wasser, da es keine Balken habe. Hier hat es Balken, aber auch nur Balken; gleichwohl begeben sich jene polnische Juden auf eine solche Wasserreise, auf so gebrechliche Fahrzeuge. Man sieht, was die Aussicht auf Handelsgewinn vermag. An dem andern Ende der Witinne ist ein freier Raum, wo die Pumpe angebracht ist; hier steht ein langer
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 588. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_588.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)