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Seite:Die Gartenlaube (1855) 587.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Im königsberger Hafen.

Von Alex. Jung.
(Schluß.)
Myne Heeren, öß dat mönslik? – Ein unbekanntes Völkchen. – Die Dzimken, ihre Fahrzeuge und ihr Leben darauf. – Dzimken auf dem königsberger Jahrmarkt. – Dzimken als Tänzer und Sänger. – Abschied von Königsberg.

Es ist eines Sommertags Nachmittag. Wir befinden uns auf dem mehrfach geschilderten Standpunkte des Bollwerks, auf der linken Seite des Pregelflusses. Plötzlich ein gewaltiger Auflauf von Menschen. Individuen der verschiedensten Stände drängen sich zusammen und bilden einen Kreis von nicht geringem Umfange. Wir dringen hindurch, und sehen im Mittelpunkte dieses natürlichen Circus nur eine Person agiren, aber in einem Affekt, in einer Verstörtheit, die unsere Theilnahme, unser Mitleid vollauf in Anspruch nimmt. Der Mann, der vor uns auf- und niederläuft, die Hand jetzt zusammenballt, jetzt vor die eigene Stirn schlägt, daß der Hut wegfliegt, ist offenbar ein Holländer, und zwar ein Schiffskapitain. Auch ragt von drüben der der Mast eines Niederländers mit breit flatternder Flagge herüber. Unser Kapitain steht still, droht nach den Schiffen hin, scheint in einen Monolog ausbrechen zu wollen, indem er sich nach dem Publikum wendet, das Blut aber steigt dem Manne zu Kopf, und er bringt es nur zu den Worten:

     Myne Heeren, öß dat mönslik?

was denn in unser ehrbares Hochdeutsch übersetzt lauten würde: Meine Herren, ist das menschlich? Dem Unglücklichen schien etwas begegnet zu sein, was nicht blos seltsam, nein, so unerhört wäre, alle Glaubwürdigkeit überträfe, alle menschliche Natur verläugnete, aber auch das Strafgericht aller besseren Menschheit herausforderte, daß solche Namenlosigkeit des Geschehenen alle anderen Gedanken und Worte bei dem armen Schiffsmanne erstickt hatte. Er stampfte jetzt mit den Füßen, er sprang, wie von einer Tarantel gestochen, umher, er rang die Hände, er schlug sie über den Kopf zusammen, und stieß, immer schneller ihn wiederholend, die Menge immer leidenschaftlicher anflehend, den Refrain aus: Myne Heeren, öß dat mönslik?

Welch’ Ungeheures, Rache Heischendes war hier denn vorgegangen? Wir sahen alle einander an, befragten uns, wollten helfen, Gerechtigkeit üben; Niemand jedoch wußte Rede zu stehen, wie sehr ihn der Verzweifelte auch jammern mochte. Das Volk umher murmelte, murrte und grollte tief, so daß es sich schauerlich anhörte. Das Volk sollte hier gleichsam als Chor, wie in der griechischen Tragödie, dazwischen treten, vermitteln, richten, und wußte doch nicht was, nicht wen. Schon hielten einige den Mann für irr, äußerten es laut, und wollten ihn fortbringen, einem Arzte übergeben lassen. Endlich klärte die Sache sich auf.

Tages vorher waren nämlich die Matrosen eines dänischen Fahrzeuges mit der Mannschaft eines Holländers, der in ihrer nächsten Nachbarschaft ankerte, in den heftigsten Hader und Wortwechsel gerathen. Sie beschlossen, natürlich ohne Wissen ihres Kapitains, es den Niederländern nachzutragen. Als diese am folgenden Tage fast alle nebst ihrem Herrn das Schiff verlassen hatten, und die Zurückgebliebenen wahrscheinlich in dem untern Raum sich befanden, rückten die Dänen ihr Schiff, abscheulich zu sagen, in eine solche Stellung zu dem Holländer, daß die Ausläufer einer gewissen Oertlichkeit, die Niemand zu nennen pflegt, in eine solche Tragweite und Nähe zum Niederländer zu stehen kamen, daß sie über die zierlichsten Wassertonnen, sage: Wassertonnen des spiegelblanken Amsterdam ausmündeten. Das Unglück wollte aber noch dazu, daß die Wasserbehälter heute alle offen standen, der Durchlüftung wegen. Wir haben aber oben beschrieben, was ungefähr holländische Wassertonnen auf sich haben. Das keuscheste, frischeste, lauterste Koch- und Trinkwasser, mühsam geschöpft und gesiebt, schaukelte sich in diesen Fässern, und sollte noch heute von seinen Besitzern gebraucht werden. Furchtbare Ironie und Schadenfreude der Umstände! Die Dänen konnten ihrem Schiffe um so fein berechneter auf den Treffpunkt die Situation geben, da dasselbe leicht war, noch nicht Waaren trug, und also hoch über dem Wasser stand, während der Holländer, schon durch seinen Bau schwerfällig, vermöge starker Ladung vollends niederdrückte, kaum über Wasser lag, um so gelassener also die Zielscheibe eines so schlechten Dänenwitzes werden mußte. Richtig und sicher fingen denn jene Mündungen auch zu spielen an. Die Holländer, an der Spitze ihr Kapitain, fanden auch wirklich nach einigen Stunden die Bescherung. Ein Witzbold und Citatenfreund konnte die bekannten Worte unseres großen Dichters mit einiger Veränderung hier citiren:

„Wem ein solcher Wurf gelungen,
Eines Feindes Feind zu sein!"

Daß nach so schnödem Begegniß der ehrlich-verschämte Schiffshauptmann Niederlands außer Fassung kommen mußte, daß er sich unmöglich dabei beruhigen konnte, besagte Tonnen nur ausgießen, einseifen, scheuern, durchräuchern und aufbrühen zu lassen, wer wollte das noch in Zweifel ziehen; sie mußten vielmehr – die Nationalreinlichkeit forderte es – zertrümmert, durch Feuer von der Erde vertilgt, das Schiff selbst, wenn auch an den Geringstbietenden veräußert werden. – Auf die oben von dem trefflichen Manne an uns gerichtete Frage aber, ob das ihm Angethane „mönslik“ sei, müßten wir freilich erwiedern: menschlich allerdings, jedoch leider nur zu menschlich. –

Der Mensch ist und bleibt ein seltsames, räthselhaftes Wesen, welches eben deshalb eine unendliche Zukunft hat, weil es durch bereits vorhandene Zustände der Civilisation nie völlig befriedigt wird. Aus aller Mannigfaltigkeit der Bildung zieht der Mensch das Verlangen nach neuen Entwickelungen, neuen Verhältnissen der Kultur, ja, er sehnt sich mitten aus dieser in die einfachen Urzustände der Natur wieder zurück, um einen neuen Bildungsgang zu beginnen. So hat es auch für den Beobachter einen besondern Reiz, der fast überreifen Bildung gegenüber solche Menschen zu betrachten, die eben erst im Begriffe sind, sich aus der Natur zu entpuppen und sich doch bewundernswerth zu helfen wissen. Sie tragen fast noch Spuren der Wildniß an sich und wachsen doch schnell in all’ das hinein, was sie sicher stellt, was ihnen Nutzen gewährt, ihnen Annehmlichkeiten bringt. Dieser rasche Uebergang von der Wildheit zur Bildung gewährt oft eine Scenerie, die uns auf der Bühne des Lebens wie des Theaters nicht wenig Unterhaltung verschafft, die aber auch in einem Genrebilde der Sprache uns durch die Contraste fesselt, welche daraus gewonnen werden.

Auch unser Wasserprospekt gewährt uns eine Anschauung, in welcher wir das Schiffswesen und seinen speciellen Betrieb fast noch im Naturstande erblicken. Ihr Hauptgegenstand ist ein Menschenschlag, der aus dem russischen Polen unter dem Namen Dzimken alljährlich zu uns herüberkommt, um seine Handelsinteressen in bescheidener Weise zu befriedigen. Man kann auf diese Nomaden des Wassers jeden Sommer eben so mit Sicherheit rechnen, wie auf das Eintreffen der Zugvögel im Frühlinge. Gerade so bestimmt halten sie die Zeit ihres Abzuges ein. Sie kommen im Juni und gehen am Anfange des September wieder ab. Sie stammen meist aus der Statthalterschaft Wilna, aus den Gegenden von Kowno, Troke, Miedniki, Jurburg, Smorgonie, Kjedany, Kroge, und sind wohl meistens armselige Landbewohner.

Ihre Zuzüge und Rastplätze gewähren eigengeartete und doch frische Naturbilder, denen man denn auch das Malerische der Wirkung, zumal im Gegensatz zu der höchsten Ausbildung der Schifffahrt unter Engländern und Amerikanern, nicht absprechen darf. Ihre Fahrzeuge heißen Witinnen. Eine solche Witinne – besonders das eigentliche Floß – hat nicht selten eine Länge von 5 bis 600 Fuß und darüber. Wenn man aus der Ferne diese Dzimkenkaravanen auf dem Wasser herankommen sieht, so glaubt man den feenhaftesten Märchentraum verwirklicht. Sieht es doch aus, als wenn eine Hügelreihe, ein Waldrücken, eine ganze Landschaft mit Häusern, Häuschen und deren Bewohnern angeschwommen komme. Die schwimmende Landzunge rückt und rückt vor und will gar kein Ende nehmen. Endlich schneidet sie sich ab, aber schon folgt eine neue Landstrecke von derselben Riesenlänge. Nun erkennt man die Gegenstände schon näher und glaubt eine Völkerwanderung auf dem Wasser vor sich zu haben. Man hört wilde, rohe Naturlaute,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 587. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_587.jpg&oldid=- (Version vom 24.7.2023)