Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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selbst gegen die Art und Weise, wie die gebrochenen Glieder geschient worden waren, als rohe Empirie eines Schäfers, die nicht den Anforderungen der Chirurgie entsprach, mancherlei Einwendungen erhoben, aber doch nicht gewagt, sie zu ändern, weil er insgeheim deren Zweckmäßigkeit anerkennen mußte; den allgemeinen Zustand zu beurtheilen, gestattete er aber keinem Andern, als sich selbst, und der war gefährlich und mußte gefährlich sein. So schilderte er ihn stets auf der Rinkenburg, wo er nach jedesmaligem Besuche Bericht abstattete. In der Stadt aber übertrieb er die Gefahr noch, und der Oberamtmann Siebeling kam deshalb heftig mit ihm zusammen, denn er wußte es von seinem Schäfer besser, da er ihn noch ein- oder zweimal zur Eremitage geschickt hatte, um sich durch eignen erfahrenen Augenschein von dem Befinden des Kranken zu unterrichten. Er sagte dem wichtig thuenden Manne zur Belustigung aller Frühstücksgäste in der Weinstube seine Meinung so deutsch, daß dieser schon erbost zum nächsten Rechtsanwalt lief, um ihn wegen Injurien zu verklagen.
Siebeling fuhr von hier nach der Rinkenburg, wo er, seinem Versprechen gemäß, die obere Leitung der Wirthschaft übernommen hatte. Seine Frau war bei kälterm Blute darüber beruhigt, besonders da Guido auf seinem prächtigen Pferde, vor Glanz und Schönheit strahlend, wie ein junger Gott, seinen Besuch in Sanct- Pankraz gemacht und sein Benehmen gegen Agnes ihr urplötzlich einige Hoffnung gegeben hatte, daß aus den jungen Leuten „etwas“ werden könnte. Vor ihrem Manne verschwieg sie aber diese Hoffnung aus guten Gründen sehr sorgfältig.
An einem Kreuzwege stellte sich dem Oberamtmann ein fremder, ältlicher Mensch entgegen, der ihn bei Namen grüßte und sich als einen armen Oekonomen ankündigte, der „Schon gut!“ unterbrach ihn Siebeling. „Wenn Sie mich kennen, so kommen Sie auf den Abend zu mir. Ich habe jetzt keine Zeit.“
„Fahren Sie nach der Rinkenburg? Wollen Sie mich mitnehmen? Ich habe auch Oben bei der gnädigen Frau zu thun.“
„Kommen Sie nur erst zu mir!“ sagte Siebeling verdrießlich. „Ihr bringt unsern ganzen Stand als Ökonomen in Mißkredit durch Euer - Fechten, nehmen Sie mir’s nicht übel. Lassen Sie Dießbach’s unmolestirt – ich werde für Sie thun, was ich kann.“
„Aber gerade – dort brauchen sie einen Inspector, da der Herr den Hals gebrochen hat –“
„Wer sagt Ihnen das?“ fuhr Siebeling heftig auf.
„O, das wissen Sie als nächster Nachbar nicht einmal?“ lachte der Fremde. „Dort wird doch Alles geheim gehalten, alte Gewohnheit, gute Ursach! Ich weiß es aber aus zuverlässiger Quelle, komme eben von Ballenstedt, wo mir ein alter Freund und Bekannter –“
„Egelmann?“ schrie Siebeling ganz erhitzt.
„Kennen Sie ihn? Allerdings derselbe. Nehmen Sie mich also getrost mit, ich versuche mein Heil und habe vielleicht bei der gnädigen Frau noch eine ganz besondere Empfehlung.“
„Nun, so steigen Sie auf, in’s Teufels Namen! Nur damit ich Ihnen unterwegs sagen kann, daß Ihnen das alte miserable Weib, der Egelmann, wieder eine niederträchtige Lüge aufgebunden hat. Offeriren Sie sich meinetwegen auch als Inspector, das geht mich nichts an.“ Staub, denn es war Niemand Anderes, hatte gleich bei dem ersten Wort den Wagen flink erklettert und hörte gelassen zu.
„So!“ sagte er dann. Für meine Angelegenheiten wäre es besser, wenn er den Hals gebrochen hätte, indessen muß es auch so gehen.“
Er hatte sich auf der Rinkenburg wirklich kaum durch den Oberamtmann, den er darum bat, bei Frau von Dießbach melden lassen, als er bedeutet wurde, eine kurze Weile zu verziehen, er werde sogleich angenommen werden. Siebeling warnte die Dame, sich nicht, ohne daß er die Zeugnisse dieses Herrn Staub gesehen habe, mit ihm einzulassen, und ging dann, in der Wirthschaft nachzusehen, während dieser Zeit wurde Staub in das Zimmer der Frau von Dießbach geführt. Als die Dame ihm, dem abgeschabten Lump, so vornehm und ruhig entgegen trat, überfiel ihn doch eine gewisse Verlegenheit, und die schönen Vorsätze, wie er seinen Vortheil wahrnehmen soll, zerrannen, wie Schnee an der Sonne.
„Es ist mir sehr lieb, Herr Staub,“ begann Frau von Dießbach, ihr Auge fest auf ihn richtend, „sehr lieb, Sie wieder in hiesiger Gegend zu wissen. Ich werde Sie in einer Angelegenheit, die ich Ihnen später nennen werde, um einen Dienst bitten, den Sie mir gewiß gern erweisen werden.“
„Befehlen Sie über mich, gnädige Frau,“ sagte Staub, dem sich eine reiche Aussicht zu eröffnen schien.
„Später, Herr Staub,“ erwiederte sie. „Wissen Sie den jetzigen Aufenthalt Ihres früheren Prinzipals?“
Aha! dachte Staub. Den soll ich ihr ausfindig machen! – „Ich glaube, ihn zu wissen –“ erwiederte er unbedenklich, obgleich es erlogen war. Denn Frau von Dießbach hatte dafür Sorge getragen, daß der Wundarzt aus der Stadt, wenn er die Eremitage besuchte, weder Stargau, noch Paulinen zu Gesicht bekam, überhaupt keine Ahnung von ihrer Anwesenheit erhielt, sonst freilich, da er Stargau von Alters her kannte, wäre letztere bald stadt- und landkundig geworden.
„Wenn das der Fall ist,“ sagte Frau von Dießbach auf die Behauptung des gewesenen Inspectors, „so rechne ich vor der Hand auf Ihre, durch eignes Interesse gebotene Verschwiegenheit. Sie werden übrigens bald von diesem Zwange erlöst werden. Einstweilen erlauben Sie mir, Ihnen eine Erleichterung Ihrer Lage zu gewähren –“ sie reichte ihm eine kleine Summe, welche sie schon bereit gelegt hatte. Er nahm sie ohne Umstände und bedankte sich, von delikater Behandlung dieses Hauptpunktes für ihn im Leben war er längst kein Freund mehr. Nachdem er hierauf angegeben hatte, daß er im goldenen Ringe in der Stadt zu finden sei, wurde er entlassen.
Es verging indessen noch mehr als eine Woche, ehe die Stunde der Erlösung schlug. Auch für Frau von Dießbach war es eine solche, wenn gleich in einem ganz andern, furchtbaren Ernst in sich tragenden Sinne. Sie hatte schon vor Jahren über sich selbst zu Gericht gesessen, den Stab über sich gebrochen, das Urtheil vollstreckt an sich selbst – und was sie jetzt noch zu thun gedachte, war nur der Schlußact, den sie bis hierher in grauenhafter Consequenz verschoben hatte.
Durch den Arzt war ihr die Kunde geworden, daß Kuno außer Gefahr, jeder Leibes- und Seelenbewegung vollkommen gewachsen sei. Guido hatte ihn schon oft in den letzten Tagen besucht, und in einer milden Stimmung gefunden, die nur nach einem Anlaß suchte, um sich in einer Herzensergießung zu äußern, wie man sie bei diesem verschlossenen, starken Charakter noch vor Kurzem für unmöglich gehalten hätte. Aber Guido, von der Mutter dringend gebeten, hatte einen solchen Anlaß geflissentlich vermieden, sich auch nie lange aufgehalten, sondern die wenige Zeit seines bald ablaufenden Urlaubs benutzt, um oft in Sanct-Pankraz zu sein, wo ihn der Oberamtmann schon mit ganz bedenklichen Augen ansah, und seine Frau mehr als einmal anforderte, der Kinderei, wie er es nannte, ein Ende zu machen. Sie war indessen weit entfernt davon, und hoffte ihn mit der Zeit, trotz seiner oft ausgesprochenen Ansichten, für eine Verbindung ihrer Tochter mit dem jungen Offizier zu gewinnen. Er war jedoch keineswegs der Mann, sich zu fügen, das hätte sie wissen sollen.
Kuno lag, halb angekleidet schon, auf seinem Bett, die Sonne schien freundlich durch sein Fenster und beleuchtete die markigen Züge des Ruhenden mit einem ihren strengen Ausdruck mildernden Schimmer. Die Alte hatte ihm die Ankunft seiner Stiefmutter gemeldet: er erwartete sie. Als die Thüre wiederum geöffnet wurde, richtete er sich, auf den gesunden Arm gestützt, halb empor und grüßte die Eintretende, welche in ihrer gewohnten Haltung, sorgfältig gekleidet wie immer, die Schwelle überschritt. Aber sie kam nicht allein, und Kuno’s Brauen zogen sich zusammen: mit ihr erschien Stargau, kamen Guido und Pauline, zuletzt folgte die gewesene Dienerin seiner Mutter. Es war, wie eine Versammlung zu besonderer Feierlichkeit, denn Frau von Dießbach trat allein dem Kranken näher, während sich die Andern im Halbkreise reihten.
„Ich komme zu Dir, mein Kuno,“ begann Frau von Dießbach mit einer tonlosen Stimme, die auch im Fortsprechen wenig Klang gewann, „um von Dir Abschied zu nehmen – von Euch Allen hier! Unterbrecht mich nicht, und wenn ich geendigt habe und hinweg gehe, folge mir Niemand als meine treue Dienerin: es ist mein ernster Wille!“ Sie winkte gebieterisch, als Guido dennoch sprechen wollte, aber sie vermied das Auge ihres Lieblings, dessen flehender Blick ihr die Kraft geraubt haben würde.
Was ich Euch zu sagen habe, ist zermalmend schwer – aber es darf nur kurz sein, denn meine Stunden sind gezählt –“ hier schien ihr ein Moment die Stimme zu versagen, doch überwand sie
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_569.jpg&oldid=- (Version vom 10.6.2022)