Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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seinen 70,000 Mann herausschlagen wird oder später die Engländer, denen Napoleon Kleinasien zugedacht haben soll, während er die europäische Türkei behalten würde, Constantinopel soll schon „ein klein Paris“ sein und „seine Leute bilden.“ Der alte große Feldherr Pyrrhus (berühmt durch seine Siege, durch welche er immer mehr verlor als gewann) nannte die Soldaten „seine Schwingen.“ Sonach und aus folgendem Erlebnisse zu schließen, hat Omer Pascha „keine Flügel.“ Die Leute haben entsetzliche Furcht vor dem Soldaten-Loose.
„Als ich eines Tages beim Consul saß,“ erzählt unser Gewährsmann, „heulten eine ganze Heerde Weiber heran, an der Spitze eine Mutter mit ihrem „loosgetroffenen“ Sohne, einem etwa 14jährigen, dünnen, siechen Jungen. Sie bat flehentlich, der Consul möchte ihren einzigen, dünnen Sohn in Dienst nehmen (als welcher er frei werden würde von seinem Loose). Allerdings sah er durchaus nicht danach aus, als könnte er als geringste Stütze der Ehre und „„Integrität““ des ottomanischen Reiches verwendet werden. Der schluchzende Junge bekam also eine Art Ehrenposten beim Consul, d. h. als supernumerares Kindermädchen, und sah fortan sehr glücklich aus, noch glücklicher aber seine Mutter.
Die Soldaten der asiatischen Türkei sehen im Durchschnitt alle sehr ärmlich aus, klein, dünn, schwärzlich, gutmüthig und glücklich, wenn ihnen Niemand etwas thut. Sprößlinge schwächlicher Aeltern, von einer Mutter, die als Sache gekauft ward und nicht als Person gilt, in einer entnervenden Religion, ohne Unterricht in einer faulen Atmosphäre zwischen Wechsel- und kalten Fiebern hindurch aufgewachsen – können diese türkischen Vaterlandsvertheidiger an sich nichts mehr leisten und die Engländer und Franzosen, welche die kleinasiatische Armee dirigiren, sind nicht im Stande, Allen künstliche Männlichkeit einzublasen. Nur durch Zufuhr frischer Kräfte und Säfte wird eine neue Generation möglich und zwar die schönste und intelligenteste. Kinder von Engländern, Deutschen, Franzosen und Italienern und griechischen, türkischen, besonders armenischen Müttern sind schon sprüchwörtlich berühmt wegen ihrer Schönheit und Klugheit. Lustig und spielend, rothwangig und lockenköpfig sprechen sie mit dem Vater Englisch oder Französisch oder Deutsch, mit der Mutter Griechisch oder Armenisch, mit einem Gaste Italienisch, mit dem Dienstmädchen Türkisch. Zwölfjahrige Kinder solcher Misch-Aeltern, geläufig in fünf bis sechs Sprachen plaudernd, sind gar nichts Seltenes. An eigentliche Schule oder gar unsern peinlichen Sprachunterricht ist dabei gar nicht zu denken. Wie leicht Kinder Sprachen lernen, davon habe ich das lustigste, lebendigste Beispiel in meiner eigenen fünfjährigen Tochter, die mit uns Deutsch, mit ihren Gespielinnen hier in London Englisch und mit der Französin im Hause Französisch spricht, blos weil sie immer Gelegenheit hatte, diese drei Sprachen zu hören und selbst zu versuchen.
Außer Schönheit, Klugheit, Lebens- und Arbeitslust haben diese neuen Setzlinge aus Europa auch unverwüstlichen Appetit. Ein solcher kleiner Europa-Kleinasiate, bei Tische einmal gefragt, aus welcher von den beiden Schüsseln er mehr haben möchte, antwortete ohne Besinnen: „Mehr aus beiden, bitte!“ Guter Appetit giebt gute Nahrung, gute Nahrung Muskel- und Geisteskraft, gute Muskel- und Geisteskraft aber Kultur, blühende Städte und Fluren, volle Scheunen, Produkte und Waaren für Menschheit verbindende Schiffe, im Sommer einen kühlen und im Winter einen warmen Trunk, ohne welchen jede Civilisation sehr trocken werden würde. Trockene Herzen, Köpfe und Kehlen aber sind schrecklich.
Der Sultan beschloß früher einmal, die alte, wundervolle Hauptstadt-Ruine Armeniens, Anni, am Flusse Arpa-tschai (der russisch-türkischen Grenze) wieder zu beleben, aber er fand keine Leute dazu. Die Leute zu neuem Leben auf unzähligen Schichten von Ruinen müssen und werden aus Europa kommen und durch Europäer entstehen.
Ich kann nicht umhin, mit einer Stelle aus dem Briefe eines Engländers zu schließen, der unlängst vom kleinasiatischen Lager aus Anni besuchte.
„Eine ungeheuer ausgedehnte, noch tausendfach stehende, aber menschenlose Stadt, noch doppelt ummauert und umthürmt. Die Trümmerhaufen liegen noch straßenweise. Aus ihnen starren noch unzählige christliche Kirchen und türkische Moscheen in verschiedenen Stadien der Verwitterung und Verwüstung empor, innerhalb nicht selten noch mit Spuren ausgezeichneter Gemälde, Schnitzwerke und Sculpturen. Einige könnten mit wenig Mühe vollständig restaurirt werden. Die Abtheilung Baschi-Boschuks freilich, welche jetzt mit ihren Pferden in den Kirchen logiren, werden es künftigen Restaurateurs schon schwerer machen. Ueber dem Flusse drüben blinkte eine Horde von Kosaken. Als ich durch eins der verwitterten Thore eintrat und während meiner ganzen Irrfahrt durch die ausgestorbene Stadt und etwa fünf Kirchen, begegnete mir keine lebendige Seele. Nichts als entsetzliches Schweigen mit den grimmigsten Gesichtern um mich her, der schauerliche Duft von Hunderttausenden, die hier ihr Blut vergossen im zermalmenden Kampfe zwischen oströmischen, georgischen, armenischen, türkischen und russischen Interessen. Das Volk spricht von ungeheuern Schätzen, die hier vergraben liegen und von Geistern bewacht werden sollen. Einer der größten würde vielleicht die große Menge armenischer Inschriften und Freskogemälde sein. In dem noch zum Theil stehenden Schlosse und einer Palast-Ruine mögen auch goldene Werthe schlummern. Systematische und wissenschaftliche Nachgrabung und Forschung mag eben so lohnend und historisch wichtig werden als Bayard’s Schätze aus den Ruinen von Niniveh. Unter der Stadt dehnen sich ungeheuere Katakomben, deren Ende man bisher noch nicht fand. Sie war einst die Hauptstadt des großarmenischen Reiches, das im letzten Jahrhundert vor Christi Geburt, besonders unter Tigranes, dem Schwiegersohne des Mithridates (des alten Krim-Helden) blühte und eine der größten und schönsten Städte Kleinasiens, so schön und mit so schöner Umgegend, daß sich unzählige gierige Eroberer darum stritten, zuletzt Alp Aslan, der Perserkönig, der sie bei Eroberung der Provinz Erivan zuletzt zerstörte. Erivan mußte 1828 an Rußland abgetreten werden, Anni blieb die Königin unter den todten Städten der Türkei.“
Blätter und Blüthen.
Eine Stunde auf dem berliner Leihamt. Mit jenem demüthigen Gefühl, welches uns beschleicht, wenn wir genöthigt sind, profanen Blicken Einsicht in unsere Kasse zu gestatten, trat ich in das Leihamt ein. Schüchern öffnete ich die Thür und befand mich nun in einem Saal, der durch ein breites Bureau in zwei Hälften getheilt war. Jenseits der Barren befanden sich die Pulte, die Tintenfässer, die Pfandzettel, die Wiegeschaalen und die Beamten der Mitleidigkeit; diesseits derselben stand ein geldbedürftiges Publikum, das meist aus alten Frauen und Kindern bestand und nur durch einzelne männliche Individuen schattirt war. Sie drückten sich sämmtlich an die Barre, auf deren breiter Platte sie ihre Pfänder ausgebreitet hatten. Die Gleichheit, die man hier vermuthen sollte, wo ein gleiches Bedürfniß sie alle herbeiführt, hatte sich jedoch keineswegs hier geltend gemacht, und sowohl von Seiten der Beamten als auch des Publikums wurde denjenigen besondere Achtung gezollt, die mit Pfändern von größerem Werth erschienen waren. Nur unter einer Erfahrung schienen Alle zu leiden, die von dem Beamten in großen und lakonischen Schriftzügen Ausdruck gefunden hatte; denn an der Wand hing jene liebenswürdige Papptafel mit den Worten. „Vor Taschendieben wird gewarnt." Wie dankbar war ich jenen Beamten, die mich auf solche Weise darauf aufmerksam machten, nach meinen Taschen zu fassen, in welchen sich zu meiner Beruhigung Nichts befand, was den Instinkt der Taschendiebe auf mich lenken konnte.
Ich legte mein bescheidenes Pfand neben den seidenen Mantel einer in tiefer Trauer gekleideten, sehr hübschen jungen Frau und dem kleinen Wäschebündel eines alten Mütterchens, die liebevoll mein respektables Kleidungsstück betrachtete und seufzend versicherte, daß das Leihamt fast gar Nichts mehr auf die Pfänder leihe. Am Ende, seitwärts von mir, standen mehrere Glückliche, die noch Goldsachen besaßen und der Reihe nach dem kleinen dicken Taxator für ihre Gegenstände Mittheilungen machten, die ihn von dem nur denkbar höchsten Werth derselben überzeugen sollten und die in lächelnde Entrüstung geriethen, wenn er ihnen versicherte, daß das Pfand nicht so viel werth sei. Sie legten sich dann auf Bitten und betheuerten, daß sie den Gegenstand bald wieder abholen würden – umsonst, der kleine Mann zuckt mit den Achseln und die Pfandgeber fügen sich schließlich in das Unvermeidliche.
In London haben die Leihhäuser eine sehr gute und auf Schonung des peinlichen Gefühls der Armen berechnete Einrichtung, indem sie in zehn bis zwölf kleine und abgeschlossene Zellen eingetheilt sind, die jede ihre besondere Thüre vom Flur aus haben und es unmöglich machen, daß Einer den Andern sehen kann. Eine so zuvorkommende Artigkeit ist in Berlin nicht, und bei jedem Oeffnen der Thüre verbirgt ein großer Theil sein Gesicht, bis er sich versichert hat, daß kein ihm Bekannter demselben Schicksale erlegen sei.
Der Beamte, der hier die Wäsche und Kleidungsstücke taxirt, untersucht
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 549. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_549.jpg&oldid=- (Version vom 20.7.2023)