Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Sie hat zweierlei Ursachen. Irgend ein besonders berühmter Sänger, wer weiß vor wie vielen Jahren, konnte das Singen nicht zu rechter Zeit lassen, wollte, wie eitle Künstler oft, bis in’s höhere Alter hinein fortglänzen. Natürlich zitterte seine Stinnne zuletzt. Aber der im Alter vibrirend Singende war doch einst ein wirklich großer Künstler. Nun wissen nur ja alle:
„Wie er räuspert und wie er spuckt,
Das habt ihr ihm glücklich abgeguckt!
Aber sein Genie, ich meine sein Geist!“
Das Zittern machte dem Alten ein talentloser Narr nach, und glaubte zu sein, was jener gewesen war! Und ein Narr macht zehn! Der zweite Grund dieser widerwärtigen Vortragsweise ist an sich vernünftigerer Art. Es kann ein schmerzlicher Affekt durch kurzes Vibriren der Stimme wahrer und wirkungsvoller ausgedrückt erscheinen. Daraus folgern nun Manche, was einmal Wirkung mache, müsse sie immer machen, je mehr man also vibrire, desto mehr wirke man!
Was das Ohr von dem Vortrag der Sänger und Virtuosen verlangt, Wohlklang durchaus, verlangt es auch von allen Orchesterklängen. Nun fragen Sie sich bei Conzertaufführungen, Opern u. dergl., ob Sie stets angenehme Zusammenklänge und nicht auch zuweilen blos wüstes Geräusch hören!
Man kann einen Ton singend oder blasend so lange ohne Unterbrechung aushalten, als der Athem es erlaubt. Auf Streichinstrumenten so lange als man will. Dagegen ist er auch ganz kurz anzugeben. Und zwischen beiden äußersten Fällen sind alle Grade von Länge und Kürze zu produciren. Diese verschiedenen Erscheinungsweisen der Töne nennt man ihre Geltung.
Nehmen wir einen Stab und schneiden ihn genau in der Mitte durch, so haben wir zwei gleiche Hälften, wird jede Hälfte wieder in der Mitte getheilt, so entstehen vier Viertel, durch weitere gleiche Theilung acht Achtel u. s. f.
Außer dieser Theilung in immer kleinere gleiche Hälften, kann der Stab auch in eine Menge ungleiche Theile zerlegt werden, in zwei Stücke, z. B. wovon das eine nur ein Viertel, das andere drei Viertel lang ist, oder in eine Hälfte und zwei Viertel, oder in eine Hälfte, ein Viertel und zwei Achtel u. s. w. Stellen Sie sich nun anstatt der Länge des ganzen Stabes einen Ton von einer gewissen Länge als einen ganzen Ton vor, und denken Sie, daß, wie der Stab durch Zerschneiden, so der Ton durch Absetzen in immer kleinere gleiche Hälften, halbe Noten, Viertel, Achtel, und ebenso in alle möglichen ungleiche Theile getheilt werden kann, so ist Ihnen der Begriff Geltung, d. h. verschiedene Zeitdauer der Töne und Noten gewiß vollkommen klar.
In der Musik hat aber die Stimme oder das Instrument sich nicht immer hören zu lassen, sie sollen zuweilen auch schweigen (pausiren). Daher giebt es auch für jede Zeitdauer eines wegbleibenden Tones Schweigezeichen (Pausen), Ganze-, Halbe-, Viertel-, Achtel-, Sechzehntel-Pausen u. s w.
In die verschiedenen Längen und Kürzen der aufeinander folgenden Töne muß aber Ordnung gebracht werden, wenn wir sie fassen sollen.
Merken Sie nun wohl auf die folgenden Worte, denn wir werden uns und Andere oft daran zu erinnern haben. Um dem Bedürfniß des menschlichen Verstandes nach Ordnung zu genügen, hat der vernünftige musikalische Kunstgeist verschiedene Mittel gesucht, gefunden und als feste, unverbrüchliche Gesetze angenommen. Das erste derselben heißt: Takt.
Der Takt theilt die mannigfaltigen Geltungen der Töne in kleine, gleiche Zeitgrenzen ein. Am Deutlichsten sehen Sie das beim Tanze. Wenn z. B. der Walzer beginnt, so macht das Tanzerpaar eine Drehung, und während derselben drei Schritte. Das ist ein Takt, eine Tanzfigur innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Dieser erste Takt giebt das Maß für alle Takte desselben Tanzes ab. Jede folgende Drehung mit ihren drei Schritten wird genau in derselben Zeit, d. h. nach derselben Taktordnung vollführt. Während aber die Tänzerpaare ihre drei Schritte unten im Saale in jeder Drehung ganz auf die gleiche Weise ausführen, hören Sie oben in der aufgespielten Melodie möglicherweise die verschiedenartigsten Tonfiguren, Notengeltungen. In dem einen Takte wird vielleicht nur ein Ton ausgehalten, in dem andern erscheinen sechs, in dem dritten zwei, in dem vierten acht u. s. w. Je weniger Töne in einem Takte erscheinen, desto langsamer, je mehr, desto schneller werden sie ausgeführt, dergestalt, daß sie in jedem Takte zusammen stets nicht mehr und nicht weniger Zeit einnehmen, als das genommene Taktmodell oder Taktmaß bestimmt.
Das zweite Mittel, Ordnung in die mannigfaltigen Tongeltungen zu bringen, ist der Accent (Betonung gewisser Töne vor andern). Wenn Sie mit geschlossenen Augen auf die Schwingungen eines richtig abgewogenen Pendels an der Wanduhr achten, so können Sie in einem fort bis hundert und weiter zählen und Sie hören keine Betonung, keinen Accent, der Sie zu Abtheilungen zwänge. Aber Sie bilden sich gern eine kleine Abtheilungsordnung und ist dieselbe einmal angenommen, zählen Sie leicht nach demselben Maß die ganze Reihe der Schwingungen fort. Der Accent erscheint nicht hörbar, aber er erscheint innerlich in ihrem Gefühl. So wirkt er auch beim Musiker, in allen Fällen, wo die Töne im Takte, in ganz gleichmäßigem Stärkegrade fortklingen. Diesen Accent kann man den innern Accent nennen. Der äußere ist der, welcher hörbar, durch wirklich stärkere Betonung dargestellt wird, wie Sie z. B. beim Marschirenlernen der Rekruten bemerkt haben, wo der Exerziermeister die lange Reihe gleichmäßiger Schritte gewöhnlich durch eins, zwei, eins, zwei, markirt.
Das dritte Ordnungsmittel heißt: Tempo.
Sie wollen ein Gesellschaftstänzchen machen. Ein Strauß’scher wird auf das Klavierpult gelegt, und ein Musikkundiger aus der Gesellschaft spielt den Walzer ab. Die jungen Leute drehen sich flink danach hin. Aber ein älteres Pärchen bleibt nach. „Das geht mir zu rasch“ – sagt der betagte Tänzer galant, nur im Singular von sich sprechend – „da kommen meine alten Beine nicht mehr fort. Spielen Sie den Walzer langsamer.“ Das Langsamere oder Schnellere im Spielen derselben Noten in derselben Taktart heißt: Tempo (Zeitmaß).
Die Musik hat sehr viele spezielle Benennungen für sehr viele langsamere und schnellere Grade des Tempo, welche z. B. als „Adagio“ (langsam), „Allegro“ (munter, lebhaft), „Vivace“ (lebendig), „Presto“ (flüchtig und schnell) u. s. w. über die Taktart gesetzt werden.
Freilich sind diese Ausdrücke auch nicht eben sehr bestimmt, denn langsam, munter, lebhaft, lebendig, flüchtig, schnell u. s. w. sind immer noch ziemlich schwankende Begriffe. Unter den Musikern pflanzt sich indessen bei der Lehre durch mündliche Ueberlieferung ein Uebereinkommen fort, das grobe Verstöße gegen das Tempo nicht leicht aufkommen läßt. Nichtsdestoweniger bleiben diese Bestimmungen immer etwas unsicher, was Sie daraus schließen können, daß dem Dirigenten nicht eben selten „vergriffenes Tempo“ vorgeworfen wird, womit gesagt sein soll, daß er ein Adagio oder ein Allegro u. s. w. zu schnell oder zu langsam angegeben (genommen) und dadurch dem Charakter und der Wirkung des bezüglichen Tonstückes Eintrag gethan habe. Um das Zeitmaß ganz sicher zu bestimmen, hat der bekannte Mechaniker Mälzel einen „Metronom“ oder Zeitmesser erfunden, welcher das Tempo mit Pendelschwingungen angiebt.
Sie können sich nach dem Gesagten hoffentlich vorstellen, welchen mühsamen langjährigen Uebungen sich der Musiker unterziehen muß, um die Geschicklichkeit zu erlangen, alle die verschiedenen Tongeltungen, welche in einer Taktart vorkommen können, von einer Note an bis möglicherweise zu hundertundachtundzwanzig, in ihrer bezüglichen Langsamkeit und Schnelligkeit dem Tempo gemäß stets so genau zu berechnen und einzutheilen, daß niemals ein Ton auch nur um das Hunderttheil einer Sekunde zu bald oder zu spät an dem bestimmten Zeitmomente im Taktraume ankomme.
Daß aber kein Musiker sich etwas darauf einbilde! – Sonst erinnere ich ihn an die sogenannte russische Hornmusik!
Denken Sie sich eine Anzahl von vielleicht vierzig schmalen Röhren, die, wie Orgelpfeifen von verschiedener Länge geformt sind und der Reihe nach auf Tafeln liegen. Vor dem Mundloch jeder Pfeife steht ein ganz schlicht aussehender russischer – Leibeigene. Plötzlich, auf ein gegebenes Zeichen ihres Dirigenten, führten diese Leute, – ich war Augen- und Ohrenzeuge davon – die Ouverture zu Mozart’s „Figaro“ vollstimmig, wohlklingend, und mit einer Exaktität in Takt und Tempo aus, daß mir vor Erstaunen der Verstand still stand und vor Rührung die Augen übergingen! Denn bedenken Sie nur, daß jeder Bläser nur einen Ton angeben kann! Nur wenn der eine Ton für den bezüglichen Mann ankommt, bückt sich dieser an das Mundloch seiner Pfeife, um sie zum Ertönen zu bringen. Könnte ich Ihnen doch begreiflich
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 545. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_545.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)