Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Populäre Briefe über Musik.
Ohne Notenbeispiele soll ich Ihnen und allen Lesern der Gartenlaube, auch solchen, die keinerlei Art von Musikunterricht genossen, das Wesen und die Wirkung der Tonkunst so verständlich machen, daß Sie alle aus Musikliebhabern in wirkliche Kenner verwandelt werden! Eine schwere Aufgabe! Indessen sei’s versucht.
Ich habe diese Frage an einem anderen Ort[1] so beantwortet: „Musik ist die Kunst, durch Töne das Ohr zu vergnügen, das Herz zu rühren, die Einbildungskraft mit mannigfaltigen Vorstellungen zu beleben und den Verstand in angenehme Thätigkeit zu versetzen.“
Wenn Sie an die Eindrücke denken, die Sie bisher beim Anhören von Musik empfunden haben, wird Ihnen diese Erklärung freilich vielversprechend vorkommen. Auch möchte ich mich keineswegs verbindlich machen, sie an allen nach Belieben mir vorgelegten Stücken zu bewahrheiten. Nichtsdestoweniger kann und soll die Tonkunst alle jene Wirkungen hervorbringen, und hat sie durch manches herrliche Werk hervorgebracht, wie ich Ihnen zu zeigen hoffe.
Nur müssen Sie ein wenig Geduld mitbringen und sich zuerst einiges von den Elementen der Musik sagen lassen. Das Zurückgehen zu der Betrachtung derselben ist auch gerade in unserer Zeit wichtiger als Sie vielleicht glauben, und nicht blos für Laien, sondern auch für manchen Künstler. Denn daß recht renommirte der letztern sich zuweilen gar nicht mehr daran zu erinnern scheinen, was die musikalischen Elemente eigentlich zu bedeuten haben, wozu sie dienen, warum sie verwendet werden, davon sollen Sie ergötzliche Pröbchen erhalten. Lassen Sie daher das Blatt nicht etwa gleich erschreckt aus der Hand fallen, wenn ich vom Ei anfange oder wenigstens von
Sie werden schwerlich eine Viertelstunde Ihres Lebens wachend hinbringen können, ohne irgend etwas zu hören, denn überall in der Natur wird Hörbares erzeugt. Alles Hörbare nennt man im Allgemeinen Schall. Die Lehre vom Schall (Akustik), früher nur ein karges Kapitel in der Physik, ist jetzt zu einer bedeutenden Wissenschaft für sich erhoben und ausgebildet. Leider aber nehmen noch wenige Musiker Notiz davon. Manche sogenannte „Genialität“ der Virtuosen und Componisten würde unterbleiben, wenn sie die unwandelbaren Naturgesetze des Schalls und menschlichen Ohres kennten! Ich gebe Ihnen einige Andeutungen aus diesem unsichtbaren Wunderreiche. Sie werden bald merken, warum.
Alles Schallende wird durch Schwingungen (Vibrationen) elastischer Körper erzeugt. Diese Schwingungen theilen sich der Luft mit, bewirken Schallwellen, welche an das Ohr schlagen. Wie wunderbar kunstvoll dieses kleine Werkzeug eingerichtet und berechnet ist, um alles in sein Bereich kommendes Hörbare auffassen und dem Geiste und Gemüthe des Menschen zur Kenntnis bringen zu können, haben Sie bereits aus des Prof. Bock früheren Aufsatz in der Gartenlaube erfahren. Wie unendlich verschieden aber sind die Schalle, und welche unendlich verschiedene Wirkungen bringen sie auf uns hervor.
Denken Sie z. B. an das ohrzerreißende Knirschen und Rasseln eines Lastwagens auf dem harten Steinpflaster und an den schmelzenden Gesang der Nachtigall! Die Hauptursache dieser verschiedenen Wirkungen liegt in der verschiedenen Art der Schwingungen. Es ist entweder regelmäßige oder unregelmäßige. Jene folgen in gleicher, diese in ungleicher Weise aufeinander. Die ungleich aufeinander folgenden bringen dem Ohr nur Geräusch, und des Geräusches wegen suchen gebildete Menschen die Musik nicht auf. Nichtsdestoweniger können Sie zuweilen Tonstücke hören, die kaum mehr als Geräusch zu nennen sind; und doch, sollte man es für möglich halten, giebt es Leute, die von solcher Musik entzückt zu werden behaupten, und sie für eine höhere Kunstoffenbarung ausgeben. Ein Blick in das ABC der Akustik könnte ihnen diesen Irrthum benehmen.
Wir, die wir von der Musik vergnügt sein wollen, halten uns an die regelmäßigen Schwingungen. Das nächste Merkmal an denselben ist ihre Unterscheidbarkeit (Meßbarkeit) nach Höhe und Tiefe. In dieser Beziehung nennen wir ihr Hörprodukt Ton.
Je langsamer die Schallweilen aufeinander folgen, desto tiefer ist der Ton, je schneller, desto höher. Sie können freilich auch so langsam oder schnell aufeinander folgen, daß ihr Erzeugniß für uns nicht mehr faßbar ist. Die Akustiker sagen, was unter funfzehn Schwingungen und über 30,000 in einer Sekunde gehe, könne das menschliche Ohr nicht mehr hören.
Die Anzahl der in der Musik gebräuchlichen Töne beläuft sich etwa auf hundert und zwanzig. Das Pianoforte der Neuzeit enthält ihrer in sechs Octaven 72. Es sind genug, um die wunderherrlichsten Wirkungen auf Herz und Geist der gebildeten Menschheit hervorzubringen, wenn sie mit Kunstverstand gebraucht und mit Kunstverstand vernommen werden.
Eine große Mannigfaltigkeit gewinnt die Erscheinung der Töne durch die verschiedenen Tonwerkzeuge. Denken Sie sich denselben Ton, angegeben von einer Singstimme oder einer Violine, Flöte, Oboe, Trompete, einem Horn u. s. w. Hier erscheint er sanft, dort gellend, hier dünn, dort dick u. s. w. Jedesmal hat er einen andern Charakter. Diesen Unterschied in dem Charakter des Tons nennt man Klang (Timbre). Sie werden oft hören, „dieser Sänger hat einen schönen Ton.“ Das ist falsch, es muß heißen: „Die Töne dieses Sängers haben einen schönen Klang.“ Die Ursachen des verschiedenen Klanges eines und desselben Tones auf verschiedenen Tonwerkzeugen sind noch nicht vollständig ergründet. Soviel weiß man, daß entweder die Construktion der Instrumente oder die Spieler derselben darauf Einfluß haben. Den schlechten Klang eines alten Klaviers vermag selbst Liszt’s Zauberhand nicht umzuändern, denn da sind Bauart, dünner Saitenbezug, schwacher Resonnanzboden schuld daran. Dagegen schützt uns die herrlichste Geige von Amati oder Stradivario nicht vor ohrzerreißenden Klängen, wenn ein Anfänger seine Uebungen darauf kratzt, gewöhnlich bei geöffneten Fenstern! (beiläufig gesagt: wenn Sie bei Musikübungen geöffnete Fenster erblicken, so sagen Sie nur getrost: da drinnen steckt ein eitler Narr oder eine eitle Närrin!)
Es giebt auch Tonwerkzeuge, die, allein gehört, unangenehm klingen, mögen sie noch so gut gebaut sein und gespielt werden. Lassen Sie sich einmal die Melodie eines Strauß’schen Walzers auf dem Contrabaß allein vortragen, sein dumpfes Murxen und Brummen wird Ihnen wahrhaft komisch vorkommen! Ueber die Klänge der Ophikleïde, des Contrafagott gerathen Sie wohl auch nicht in Entzücken! Andere Instrumente klingen nur in gewissen Tonregionen angenehm, in andern schlecht. Die höchsten Töne auf der Klarinette schneiden meist wie Verzweiflungsquiekse eines gespießten Kindes in Ohr und Herz! Und nun gar große und kleine Trommel, Becken, der Häuser erschütternde Tamtam! Diese Körper geben gar keine Töne und Klänge von sich, sondern nur Schalle mit unregelmäßigen Schwingungen, d. h. Geräusch. Sie werden indessen in der Folge erfahren, unter welchen Umständen auch solche Schalle mit andern Klängen verbunden zu veredeln sind.
Wenn Sie nun zugeben, daß die allererste Bedingung der Musik ist, das Ohr zu vergnügen, so fängt Ihre Bildung zur Kennerschaft schon nach diesen wenigen Zeilen an, so wissen Sie schon jetzt, daß in der Musik keine Miß-, sondern nur Wohlklänge producirt werden sollen. Was aber Sie und alle Leser der Gartenlaube ganz natürlich finden, scheint in der That mancher Künstler nicht begriffen zu haben.
Kann das Ohr z. B. Vergnügen an der zitternden Stimme eines alten Mannes oder Weibes empfinden? Und doch geben sich in unserer Zeit viele Sänger und Sängerinnen geflissentlich Mühe, die Melodien mit zitternder Stimme vorzutragen (zu tremoliren!). Auch auf der Violine, dem Violoncell, können manche Virtuosen keinen Ton aushalten ohne mit ihrer Hand absichtlich wie schwache Greise auf der Saite zu zittern, und diese dadurch vibriren zu machen.
Woher kommt diese Thorheit?
- ↑ Katechismus der Musik. Leipz. bei J. J. Weber.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 544. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_544.jpg&oldid=- (Version vom 17.7.2023)