Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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er berührt, unehrlich sei, ist für uns ein seltsames Mährchen aus dunkler Vorzeit. Vor kaum mehr als hundert Jahren aber war diese Sage noch ein unumstößlicher Glaubenssatz, der auch auf die Gebildetsten seinen Einfluß ausübte.
Als die Aerzte unserer Vorfahren anfingen, einzusehen, daß sie der Leichname bedurften, um den Bau des menschlichen Leibes kennen zu lernen, wurde diese Einsicht ihnen zunächst eine Quelle ernster Verlegenheit. Diese einzigen Leichname, die ein Arzt damals zu erlangen hoffen durfte, waren die von Selbstmördern und hingerichteten Verbrechern, welche zunächst dem Scharfrichter oder Abdecker anheimfielen, und mit diesem in irgend einen Verkehr zu treten, war zumal für einen Arzt sehr bedenklich. Hätte sich unter den Bewohnern einer Stadt oder Landschaft das Gerücht verbreitet, daß ihre Aerzte sich mit dem Wasenmeister in leichtfertige, freigeisterische Beziehungen eingelassen hätten, so wären sie sämmtlich lieber ohne Arzt gestorben, als daß sie diese nun auch unehrlichen Doctoren hätten an ihr Bett treten lassen. Da kam nun ein kluger Kopf auf ein gutes Auskunftsmittel. Ließ sich doch sogar der Teufel durch einen wohlangebrachten Hokuspokus vertreiben, warum sollte es nicht möglich sein, die Abneigung einer wohlehrsamen Bürgerschaft gegen den Wasenmeister und Alles, was mit ihm in Berührung kam, zu beschwichtigen? Man erfand eine Ceremonie, durch welche der Glaubenssatz, daß ein Ding, welches einmal in den Händen des Abdeckers gewesen sei, fortan von keinem ehrlichen Menschen berührt werden dürfe, zwar feierlich anerkannt, zugleich aber erklärt wurde, daß man um des allgemeinen Besten willen für ein einzelnes solches Ding von jener Regel abstrahiren wolle. Man verfuhr dabei natürlich möglichst öffentlich. Der Leichnam eines Selbstmörders oder hingerichteten Verbrechers wurde von einem Knechte des Wasenmeisters auf einen zweirädrigen Karren vor das Thor des anatomischen Theaters gebracht. Der Knecht mußte nun den Kasten, in welchem der Leichnam lag, von dem Karren herabnehmen, ihn öffnen, den Deckel auf die Erde, und auf ihn den Leichnam legen. War der Todte durch das Schwert hingerichtet worden, so wurde ihm der Kopf zwischen die Beine gelegt. Natürlich hatte sich inzwischen eine große Anzahl von Zuschauern eingefunden, die sich jedoch in ehrfurchtsvoller Entfernung hielten. Nun trat der Prosector in Begleitung des Pedells in die Nähe des Leichnams. Beide entblößten das Haupt, was ebenfalls alle Umstehenden thaten. Der Prosector las dann ein landesfürstliches Decret vor, welches diese Feierlichkeit verordnete, und erklärte sodann, daß er von Seiten des akademischen Senates beauftragt worden sei, im Namen der medizinischen Facultät den vorliegenden Leichnam durch Aufdrückung des Facultätssiegel ehrlich zu machen, damit ein jeder ehrbare Mensch an solchem zu hantieren befugt sei. Neben ihm hielt der Pedell in der rechten Hand das Facultätssiegel mit einer auf Papier geklebten feuchten Oblate, und überreichte Beides dem Prosector, welcher nun das Papier mit der Oblate auf die entblößte Brust des Leichnams legte, und das Siegel darauf drückte Der Knecht des Scharfrichters mußte während dieser Handlung mit seinem Gespann in einiger Entfernung warten. Der Leichnam, der nun ehrlich war, wurde nun von Freiwilligen aus der umstehenden Menge in das anatomische Theater getragen, worauf der Scharfrichterknecht seinen Kastendeckel wieder in Empfang nehmen durfte.
Die Schlacht an der Tschernaja. Ein englischer Maler giebt uns von dort folgende Schilderung. „Sterbende und Todte lagen in allen Richtungen und Verzerrungen umher. Einige starben mit den Gesichtern aufwärts, die Hände in der Luft ballend und damit graspend, bis sie platt herabfielen, Andere waren todt und steif mit gerade emporgerichteten Armen, als wenn sie plötzlich von einem Schlage mitten im Todeskampfe versteinert worden wären. Manche waren jedenfalls augenblicklich todt niedergefallen und lagen mit ihren Gesichtern platt auf dem Boden. An Andern sahen die Wunden und Verstümmelungen entsetzlich aus. Zwei Franzosen lagen dicht bei einander, Jeder eines Armes mit dem obern Schulterblatte durch ein- und denselben Kanonenschuß beraubt. Anderswo lagen drei Russen hinter einander, der Erste ganz ohne Vorderkopf, ohne Gesicht, der Zweite mit durchlöcherter Brust, der Dritte mit aufgerissenem Leibe: die That eines einzigen Schusses.
„Doch die Todten waren bei Weitem nicht das Entsetzlichste! Nein, die Todten lagen still, selbst in den unnatürlichsten Positionen. Aber die Sterbenden, die Sterbenden! Die Fieberphantasirenden! Die vor Durst Wahnsinnigen! Die röchelnden letzten Rufe nach Wasser in ganz unverständlicher Sprache, aber deutlich genug durch Gestikulationen Einiger, die ihre Zungen heraussteckten und darauf wiesen, und selbst während der letzten Athemzüge noch die Operation des Trinkens symbolisch versuchten! Wir holten allerdings fleißig Wasser, aber bei Vielen kam’s zu spät. Die Russen hatten fast alle große Aehnlichkeit mit einander, vielleicht hatte hier eine bestimmte Race ihre Todten und Sterbenden gelassen. Gesicht beinahe Negerform, sandfarbiges Haar, blaue Augen, sehr faltige Gesichter, dicke Lippen, wenig Stirn, plattgedrückte Nase, verworrener Bart. Aber dazwischen fiel mir ein sehr edeles, sterbendes Gesicht auf, das unablässig um Wasser bat. Ich eilte nach dem Flusse hinunter, nachdem ich ihm die Trinkkanne abgeschnitten hatte, füllte sie, kam athemlos zurück und half ihm, sich aufrichten, um ihm die Labung einzuflößen. Aber kaum hatte ich ihn ein Paar Zoll gehoben, stieß er einen Schrei aus und fiel todt zurück, plötzlich ganz todt. Bald war er von Engländern und Franken umringt, die seine Taschen und Kleider untersuchten, um ihn zu beerben„ Dieses Plündern unter Todten und Sterbenden, statt letzteren wenigstens das herzerschütternde Feldgeschrei nach Wasser! Wasser! zu befriedigen, sah von Seiten unserer Freunde eben so barbarisch aus, wie von unsern Feinden.“
Die Garde stirbt, aber sie ergiebt sich nicht (La garde meurt, mais se ne rends pas) soll in dem Getümmel der waterlooer Schlacht die Antwort des französischen Generals Cambronne gewesen sein, als die Briten ihn aufforderten, sich zu ergeben. Tausendmal und wieder tausendmal ist diese Antwort in allen europäischen Ländern nacherzählt worden. Es ist möglich, daß der General sie in einem gewissen Zeitpunkte der Schlacht gegeben hat; aber nicht bei folgender Gelegenheit, wo, nach ganz glaubwürdigen Zeugnissen, der hannoversche Oberst (nunmehriger Generallieutenant) Halkett, welcher in der Schlacht eine hannoversche Brigade commandirte, ihn wirklich zum Gefangenen machte.
Das hannoversche Feldbataillon Osnabrück, welches einen Theil jener Halkett’schen Brigade bildete, griff in der Nähe des Pachthofes Hougemont ein Viereck der kaiserlichen Garde an und überwältigte es. Das Viereck gehörte zu der Brigade des Generals Cambronne, welche die äußerste Linke des französischen Angriffs ausmachte. Der größte Theil der Halkett’schen Brigade bestand aus neuausgehobenen Truppen, welche zum ersten Male einem Feinde gegenüberstanden, und nun einem mörderischen Feuer der Cambronne’schen Brigade ausgesetzt waren. Hannoversche Scharfschützen, die manchen Franzosen tödteten, schwärmten dem Bataillon Osnabrück voran, auf welches die Cambronne’sche Brigade muthig losschritt. Der General Cambronne selbst marschirte an der äußersten Spitze seiner Truppen. Indem er diese durch rasches Vorwärtsreiten und lebhaftes Schwenken seines Degens zum Kampfe ermunterte, wurde ihm, als er dem hannoverschen Bataillon schon nahe gekommen war, das Pferd unter dem Leibe erschossen. Halkett hielt dies in demselben Augenblicke für eine günstige Gelegenheit, seinen jungen Soldaten Vertrauen einzuflößen; schnell wie der Blitz sprengte er ganz allein auf den französischen General los, und drohte ihm mit dem augenblicklichen Tode, wenn er sich ihm nicht sogleich zum Gefangenen ergäbe. Cambronne, durch das Außerordentliche des Falles überrascht, senkte sogleich seinen Degen und ergab sich dem tapfereren Obersten. Dieser säumte nun nicht, mit seinem Gefangenen der britischen Linie entgegen zu eilen. Aber unglücklicher Weise stürzte gleich hierauf auch Halkett’s Pferd, von einer Kugel getroffen, mit seinem Reiter zu Boden. Zwar suchte sich der tapfere Mann augenblicklich von dem Thiere zu befreien; als er sich aber aufgerafft hatte, sah er zu seinem größten Aerger den französischen General gemächlich zu seinen Truppen zurückkehren. Doch war Halkett nicht gewohnt, einen errungenen Vortheil so leicht wieder aufzugeben; es gelang ihm, fast in demselben Augenblicke das Pferd wieder auf die Beine zu bringen und eben so schnell dem französischen General nachzusprengen. Er holte ihn auch wirklich wieder ein und führte ihn an den Achselschnüren seiner Uniform im Trabe nach der britischen Stellung zurück. Dadurch zum höchsten Muthe entflammt, stürmten die Hannoveraner mit dem Bayonnet unaufhaltsam auf die Franzosen los und stachen sie zum Theil nieder, zum Theil trieben sie sie in die Flucht.
Künstliches Seewasser. Das beste ist jedenfalls das natürliche, das man für die Stunde des Gebrauchs trocknet, luftdicht verschließt und, wenn man z. B. ein Marine-Aquarium fertig hat, wieder naß macht. Trocknes Seewasser? Ja. Man dampft es ab, so daß blos die chemischen Bestandtheile in fester Form übrig bleiben. Das ist dann ganz wörtlich trocknes Seewasser. Um es wieder in flüssiges, richtiges Seewasser zu verwandeln, gießt man auf 561/2 Unzen trocknes Seewasser 10 Gallonen, weniger 3 Nösel Flußwasser. Diese Kunst, welche bei sich ausbreitendem Geschmacke für Marine-Aquarien, für künstliche Seebäder u. s. w. eine recht hübsche Industrie in Hafenstädten werden konnte, schlug zuerst Dr. E. Schweitzer vor, und prakticirte sie auch mit dem besten Erfolge. Für kleinere Quantitäten nahm er 6 Unzen trocknes Seewasser in 1 Gallone Flußwasser und rührte die Mischung um, bis alle trocknen Bestandtheile aufgelöst waren. Wir haben früher die chemische Zusammensetzung des Seewassers angegeben, so daß, wer genau sein will, darnach wissenschaftlich componiren kann. Das Bequemste ist aber dieses trockne Seewasser, welches man wie Zahnpulver versenden und dann je nach Bedarf wieder zu Wasser machen kann. Wir zweifeln nicht, daß trocknes Seewasser bald ein Industrie-Objekt und Handelsartikel werden wird, billig zu haben in jedem anständigen Materialwaarenladen.
Englisches Heidenthum. Die englischen Bibel- und Missionsgesellschaften vertheilen jährlich hunderttausende von Bibeln und sammeln Millionen von Pfunden in England, um schwarze, braune, gelbe und rothe Heiden in allen fernen Welttheilen zu bekehren und ihnen das Niederknieen vor Götzen abzugewöhnen. Inzwischen knieeten neulich eine ganze Menge schon längst bekehrter Engländer vor einem Menschen nieder, der nicht einmal Kaiser, geschweige Götze ist. Wie eine englische Zeitung erzählt, kam die Königin von England zu ihrem großen Alliance-Besuche nicht so früh in Boulogne an, als die Leute erwarteten. Erst um zwei Uhr verkündeten donnernde Kanonen ihre Ankunft. Natürlich hatten sich große Volksmassen am Landungsplatze zusammengedrängt, unter denen sich viele Engländer patriotisch hervordrängten. Einige derselben kamen in einem besondern kleinen Dampfschiffe in den Hafen hinein, Engländer von Familie und Vermögen, Herren und Damen. Am Landungsplatze sahen sie im kaiserlichen Pavillon eine glänzende Generals-Uniform, in welcher sie Se. Majestät den Kaiser Napoleon III. Allerhöchst selbst vermutheten, so daß sie sofort, von Andacht und Ehrerbietung niedergedrückt auf ihre Knieen fielen. Die Franzosen lachten aus vollem Halse, auch der General oben biß sich in die Lippen, um seiner Würde durch Herausplatzen vom Zwerchfelle nichts zu vergeben, und die Engländer standen sehr dumm aussehend wieder auf, und wischten sich sehr lange die Hosen ab, um ihr dummes Aussehen so lange als möglich zu verbergen. Schade, daß der Kaiser selbst es nicht war. Obgleich ein „gestrenger Herr“, um uns manierlich auszudrücken, und kein Freund von Zungen-, Preß- und Zwerchfellfreiheit, würde er doch, wir wetten darauf, in diesem Falle das Zwerchfellerschütterungsrecht seier getreuen Unterthanen anerkannt haben, obwohl nach dem unmittelbaren komischen Eindrucke ein dauernder Ekel vor dieser englischen
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 521. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_521.jpg&oldid=- (Version vom 12.7.2023)