Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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trauriges Beispiel sittlicher Verwahrlosung! – in dem kurzen Zeitraume von kaum einem Jahre, die Bahn der Verbrechen so schnell durchlief, daß man sagen konnte, das Kind trat nur aus der Schule, um in das Zuchthaus überzugehen!
Ich hatte unter meinen Schützlingen eine Mutter mit vier Kindern. Der Vater der Familie war den Seinen frühe durch den Tod entrissen worden, und der Mutter blieb so die Sorge für die Ihrigen allein überlassen. Da dieselbe von Morgen bis Abend und meist auch des Nachts vom Hause fern war (sie versah das Geschäft einer Aufwäscherin in einer öffentlichen Wirthschaft), so waren auch die Kinder bis zu meinem Bekanntwerden mit ihnen in Absicht auf ihre Pflege und Entwicklung ganz sich selbst und dem Zufall überlassen. – Das älteste Kind war zwölf, das jüngste sechs Jahre alt, als ich in die Familie eintrat. Alle Kinder trugen das Gepräge der Verwahrlosung an sich, am Meisten aber zeichnete sich hierinnen Anna, die Aelteste, aus.
Anna war ein so eigenthümliches Mädchen, daß ich lange Zeit bedurfte, ehe ich ein recht klares Bild ihres Charakters gewinnen konnte. Ihr Aeußeres so wie ihr ganzes Wesen machte zuerst den Eindruck großer Dummheit, und ihre eigene Mutter behauptete, das Kind sei blödsinnig, was aber durchaus nicht der Fall war. Denn wurde man näher mit ihr bekannt, erfuhr man ihre große Geschicklichkeit, fast möchte ich es Talent nennen, im Lügen, so konnte man ihr einen hohen Grad von Verstandesthätigkeit nicht absprechen. Sobald es nur galt, sich durch irgend welche Lüge der Gefahr der Strafe zu entziehen, so wußte das Mädchen sofort eine ganz verwickelte Geschichte sich zusammenzustellen und darinnen die Lüge so zu verhüllen, daß man die Wahrheit oft nur mit der größten Anstrengung heraus finden konnte. Aber auch noch eine andere, weit schlimmere Eigenschaft lernte ich bald an ihr kennen, und dies war ein entschieden ausgesprochener Hang zur Grausamkeit. So hatte sie eines Tages einem Sperling die Krallen und Flügel abgeschnitten, und ich kam dazu, als sie nach dieser Handlung mit dem Ausdrucke des größten Wohlbehagens zusah, wie das so gemarterte Thier sich im Staube wand. Spielte sie mit ihrer kleinen Schwester, dann war das Spiel gewöhnlich „Köpfen“ oder „Wundarzt,“ wie sie es nannte, und auch hier war es merkwürdig, mit welcher wahren Wollust sie durch ihre Phantasie die schmerzhaftesten Operationen sich vor die Seele führte. Diese Neigung, immer in Bildern der Grausamkeit zu leben, sprach sich fast bei jeder Handlung aus. So sah ich sie einmal Kartoffeln schälen und diese in eine Reihe vor sich hinstellen. Ihr Selbstgespräch dabei verrieth mir dann, daß sie unter den Kartoffeln beseelte Wesen sich vorstellte, welche sie in der Reihenfolge, wie sie vor ihr stünden, morden müsse. Indem sie nun die Eine schälte, schilderte sie zugleich, die nächstfolgende anredend, in gräßlicher Ausführlichkeit die Qualen, die beim Geschlachtetwerden zu erleiden seien. Lange blieb mir dieser erschreckliche Hang unerklärlich, bis endlich eine noch strengere Beobachtung mich darüber aufklärte. Das Mädchen war im höchsten Grade jenem verderblichen Umgange mit sich selbst ergeben, der zum Schrecken der Familien und Schulen, in der Entwickelungsgeschichte so vieler Kinder eine geheimniß- und bedeutungsvolle Rolle spielt! Mit der hier angedeuteten, physisch und moralisch gefährlichsten Gewohnheit im engsten Zusammenhange, besser vielleicht aus dieser erst entstanden, erwies sich Anna’s Neigung zu gräßlichen und grausamen Bildern und Handlungen. Nachdem ich diese traurige Gewißheit erlangt hatte, suchte ich in dem Mädchen die Ahnung zu erwecken, daß ich um ihr Geheimniß wisse. Zu diesem Zwecke gebot ich ihr, sobald ich die Abirrung ihrer Gedanken von der Arbeit bemerkte, einige Mal im Zimmer auf- und niederzugehen, ohne ihr jedoch den Grund hiervon zu sagen. Ich erreichte damit in Kurzem meine Absicht vollkommen, Anna fühlte sich erkannt und hütete sich wohl, in meiner Gegenwart sich zu vergessen. Als ich dessen gewiß war, benutzte ich die erste Gelegenheit zu einem vertrauten Gespräch mit ihr, und auf ihre Zuneigung und Liebe vertrauend, versuchte ich in einer hier näher nicht zu erörternden Weise sie über die Folgen und die sittliche Bedeutung ihrer Gewohnheit aufzuklären. Ich schloß dann mit der freundlichen Mahnung sich mir offen zu vertrauen. Anna war durch meine Worte tief bewegt worden und erschloß mir vertrauensvoll ihr Inneres. Ich vernahm hier Bekenntnisse, die mich mit Schrecken, Furcht und Mitleid zugleich erfüllten. Unter Anderem sagte sie: „Wenn ich mich vergangen habe, dann ist mir es immer darnach als müsse ich beten oder etwas recht Böses thun.“ Ich bat sie, mir für Letzteres doch ein Beispiel zu erzählen, worauf sie erwiederte: „Einmal, wo es auch geschehen war, wollte ich dann gern meine kleine Schwester, mit der ich allein war, mit einem Messer erstechen, aber da kam gerade meine Mutter nach Haus.“
Dieses eine Beispiel genügte mir, um die Gefahr zu erkennen, in welcher in jeder Beziehung die Geschwister in der Nähe Anna’s schwebten und brachte mich zu der Ueberzeugung, es sei zum Schutze derselben dringend nothwendig, daß das Mädchen aus dem Hause entfernt werde. Da nun dies zu bewerkstelligen meine Thätigkeit allein nicht ausreichen konnte, und andere Hülfe im Hause selbst mir mangelte, so theilte ich mehreren Personen von Einfluß die mir bekannt gewordenen Thatsachen mit, knüpfte daran meine Befürchtungen für die Zukunft des Mädchens und bat, das Mädchen in irgend welche öffentliche Anstalt unterzubringen, wo sie gehörig überwacht und gebessert werden könne. Doch so viel ich mir auch Mühe gab, immer und überall ward mir die Antwort zu Theil, daß es für solche Fälle keine besonderen Anstalten gäbe, und daß nur, wenn zugleich ein Diebstahl, oder sonst ein anderes größeres Vergehen vorliege, das Mädchen in eine Besserungsanstalt gebracht werden könne.
Mit der größten Besorgniß sah ich jetzt in Anna’s Zukunft, und diese Besorgniß steigerte sich noch, als das Mädchen nun der Schule entwachsen war, und die Mutter mit Ungeduld eine Gelegenheit suchte, sie aus dem Hause unter fremde Leute zu bringen. Bald fand sich auch eine solche Gelegenheit, und Anna kam als Kindermädchen zu einem Ziegeleibesitzer. Durch diese Lebensveränderung war sie aber nun auch meiner Aufsicht und Fürsorge entzogen. Meine schlimmen Ahnungen sollten sich bald erfüllen; denn nicht lange nach ihrem Fortgange von Dresden entfernte ein trauriges Ereigniß Anna aus dem Hause ihrer Herrschaft. Wenn nicht durch ein Vergehen Ihrerseits (was nicht ermittelt werden konnte), so doch unter ihrer Aufsicht, war das ihrer Fürsorge übergebene Kind von dem Ziegelboden herabgestürzt und hatte dabei bedeutenden Schaden gelitten. Ich benutzte diesen Vorfall, um abermals an verschiedenen Orten auf die Nothwendigkeit hinzuweisen, daß dieses Mädchen, um noch größeren Unglücksfällen durch sie vorzubeugen, unter sorgfältige Aufsicht genommen werden müsse. – Doch abermals vergeblich; mir ward die Antwort, man könne ja für ihre Verschuldung an jenem Unglücksfalle keine Zeugen bringen. Anna vermiethete sich hierauf als Gänsemädchen auf’s Dorf. Aber auch hier war ihres Bleibens nicht lange. Sie legte in der Scheune ihres Herrn Feuer an, und ward nun zur Bestrafung der Obrigkeit überliefert.
Hier gestehe ich offen, daß ich fast froh war, daß endlich einmal ein Vergehen des Mädchens von der Art war, daß sie dadurch so zu sagen der Polizei selbst in die Hände lief; denn ich glaubte, es werde von nun ab ein strengeres und wachsameres Auge auf sie gerichtet, und sie nun in eine Besserungsanstalt untergebracht werden. Leider aber sollte auch diesmal meine Erwartung getäuscht werden, denn schon nach wenigen Tagen war Anna wieder in Freiheit. Auf meine deshalb eingezogenen Erkundigungen ward mir der Bescheid: „Weil Anna in den mit ihr angestellten Verhören auf die Frage nach dem Grunde oder die Absicht, die sie zum Feueranlegen bestimmt hätten, keine andere Antwort gegeben habe, als: es sei ihr nur so gewesen, als müsse sie es thun, und als sage ihr jemand, daß sie Feuer anlegen solle,“ so müsse man sie als geisteskrank erklären.“ Und so kam sie in das dresdner Stadtkrankenhaus, wurde daselbst kurze Zeit ärztlich behandelt, dann als genesen wieder entlassen. –
Nach diesem genannten Ereigniß vermiethete sich Anna abermals als Kindermädchen. Ich vernahm diese Nachricht in der Familie mit banger Besorgniß, denn ich fürchtete alles Schlimme, so lange ich das Mädchen sich selbst überlassen wußte. Wie traurig sollte sich auch diesmal meine Befürchtung bewahrheiten. Anna legte in Kurzem durch eine noch schrecklichere Handlung vor der Oeffentlichkeit selbst ein Zeugniß für ihre Gefährlichkeit ab.
Es war im Sommer 1849, als der Dresdner Anzeiger einen grauenerregenden Vorfall meldete. Durch ein Kindermädchen waren in einer Familie in der Vorstadt an zwei kleinen Kindern verschiedene Grausamkeiten verübt worden. Dem ältesten drittehalbjährigen Kinde hatte das Mädchen Blumenblätter und Insekten in Augen, Ohren und Nase gestopft, vermittelst eines Messers ihm unter die Nägel der Hände und Füße gestochen und am Nabel
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 492. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_492.jpg&oldid=- (Version vom 8.7.2023)