Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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ausgestiegen waren, während der Kutscher dem herangetretenen Burschen den Koffer vom Bocke zureichte.
„Dort,“ erwiederte der junge Mann in dem zu kurzen Kamisol verächtlich.
„Nun, ja.“
„Bei zwei Lieutenants, die nicht einmal von der Garde sind?“
„Sieh Dir den Koffer an. Er ist schwer. Der plumpe Commißbengel kann kaum mit ihm die Treppe hinauf.“
„Was wird darin sein? Abgetragene Uniformen, abgerissene Stiefeln, zerrissene Hemden. Ich kenne das.“
Er trat in die Straße. Der Alte folgte ihm, noch immer nach der Droschke und nach dem Hause sich umblickend, in welchem gleich nachher die beiden Offiziere verschwunden waren.
Sie hatten nur wenige Schritte gemacht, als der Schein einer fernen Laterne ihren stets lauernden Augen einen herannahenden Gensd’armen zeigte. Sie sprangen rasch hinter eine breite Pumpe neben dem Trottoir.
Der Gensd’arm ging würdevoll drüber, ohne sie zu sehen.
„Wohin gehen wir?“ fragte, als der Gensd’arm vorbei war, der jüngere seinen Gefährten in dem grauen Flausrocke.
„Du weißt es ja. Für heute Nacht weiß ich kein anderes Quartier.“
„Als in den Scheunen dahinten?“
„In der Weberstraße.“
„Wenn es nur nicht so weit weg wäre. Man ist dahinten so entfernt von allen Geschäften. Wenn man des Nachts nicht schlafen kann, man könnte nicht einmal etwas ausführen.“
„Das möchte ich Dir ohnehin nicht rathen. Du mußt erst wieder das Terrain kennen lernen. Seitdem der Duncker da ist - “
„Bist Du wieder mit Deinem Duncker da! Ich bin drei Stunden bei Dir und habe schon zwanzig Mal den Namen hören müssen.“
„Ich wünsche Dir, daß Du ihn nicht noch öfter hören, oder gar die Bekanntschaft des Mannes machen mußt.“
„Hat das Alter oder das Zuchthaus Dich feige gemacht?“
„Du kennst ihn nicht. Du hast seit sechs Jahren auf der Festung gesessen. In dieser Zeit ist er gekommen. Und seitdem ist Alles anders geworden.“
„Laß uns gehen.“
„Warte, warte; nur noch einen Augenblick.“
„Was hast Du?“
„Sieh, die beiden Offiziere da drüben.“
Von dem Trottoir aus konnte man durch das geöffnete Fenster sehen, was in dem gegenüberliegenden erhellten Quartiere des Lieutenants von Maxenstern, namentlich in der Nähe des Fensters, vor sich ging. Der Lieutenant war gerade mit dem Untersuchen der Sicherheit des Sekretärs beschäftigt.
Auch der jüngere der beiden verdächtigen Menschen blickte jetzt angelegentlich in die Stube gegenüber.
„Zum Teufel, der Kerl versteckt da etwas.“
„In den Sekretär? Nicht wahr? Du hast es also auch gesehen?“
„Ja. Und wie vorsichtig der Mensch ist. Das muß Werth haben.“
„Es scheint also doch kein armer Lieutenant zu sein.“
„Wohin? Du willst doch jetzt nicht fort?“
„Sie machen die Fensterladen zu. Sie wollen ausgehen. Sie werden gleich kommen. Sie dürfen uns hier nicht finden. Der Bursche scheint verdammt mißtrauisch zu sein.“
„Wohin denn?“
„An die Ecke der Junkernstraße dort. Wir überschauen da die Markgrafenstraße und können sie mit den Augen verfolgen.“
Sie stellten sich an die Ecke der Markgrafen- und Junkernstraße. Gleich darauf sahen sie den Burschen des Lieutenants das Haus verlassen. Er ging nach der Lindenstraße zu. Wenige Minuten später kamen die beiden Offiziere. Sie gingen in der Richtung nach den Linden. Sie kamen an den beiden Harrenden vorbei, aber auf der entgegengesetzten Seite der Straße, so daß diese von ihnen nicht bemerkt werden konnten. Als sie, nach der leipziger Straße hin, verschwunden waren, begaben jene Beiden sich vorsichtig nach dem Hause Markgrafenstraße Nummer 92 zurück.
Die Markgrafenstraße gehört zu den belebteren Straßen Berlins, auch noch an ihrem oberen Ende in der Nähe der Lindenstraße, dort, wo das „Kammergericht“ so ernst in sie hineinschaut. Ein ernstes und zugleich eisern festes Bild der Gerechtigkeit früher, selbst dem großen Friedrich den Widerstand des Rechts entgegenstellend; von den Stürmen der neueren Zeit manchmal daniedergebeugt.
Es gingen viele Menschen in der Straße, auf den Trottoirs zu beiden Seiten derselben, hin und her, geschäftig und geschäftslos. Arbeiter, die müde von der ehrlichen Tagesarbeit heimkehrten; andere, die auf die unehrliche Abends- und Nachtarbeit aller Art ausgingen; Soldaten, die ohne alle Arbeit einher schlenderten; Köchinnen und Kindermädchen und die bekannten berliner „Mädchen für Alles,“ die theils Bestellungen für die Herrschaft machten, theils Bestellungen nicht für die Herrschaft suchten, bei den herumschlendernden Soldaten wie anderswo; junge Comptoiristen, die von den Comptoirs, junge Referendarien, die, bei den „Probeinstructionen“ verspätet, vom Kammergericht, junge Lieutenants, die aus der Kaserne in der Lindenstraße kamen; alte vertrocknete Geheim-Sekretäre und Hofräthe – Kanzlei- und Registraturräthe gab es damals in Berlin noch nicht – die noch im Gehen von den Händen den Aktenstaub abschüttelten und den Tintenschmutz abwischten; und noch manches andere preußische Gewächs, das man besonders in der ersten Haupt- und Residenzstadt des preußischen Staates antrifft.
In dem Getreibe aller dieser Leute fiel es nicht auf, wenn zwei Menschen vor einem Hause ein paar Minuten stehen blieben, und, so unbefangen wie möglich, dem Anscheine nach in irgend ein gleichgültiges Gespräch verwickelt, oder nach den blauen Augen einer Köchin schielend, scharf prüfende Blicke nach der Thür, der Treppe, den Fenstern, den Fensterladen des Hauses richteten, und sich zugleich genau die Häuser nebenan zu beiden Seiten und gegenüber besahen, dann aber, wie weiter spazierend, langsam nach der Lindenstraße zugingen. Dort traten sie, um ungestört und unbemerkt mit einander sprechen zu können, auf die um jene Zeit schon leere Rampe des Kammergerichtsgebäudes.
„Nun?“ fragte der Aeltere, die Superiorität des Jüngeren anerkennend, den Letzteren. „Was meinst Du? Es geht, nicht wahr?“
„Wenn es gehen soll, so muß es gehen,“ antwortete der Andere trocken.
„Wenn wir nur Handwerkszeug hätten! Nur etwas! Aber ich bin erst seit gestern wieder hier, Du erst seit ein paar Stunden! Wir sind nackt und kahl wie die Kirchenmäuse.“
„Schwatze nicht. Wir müssen zunächst wissen, wie es inwendig im Hause aussieht.“
„Da hast Du wahrhaftig Recht, mein Junge. Ich hätte es im Eifer beinahe vergessen.“
„Gehe hin und siehe nach.“
„Warum gehen wir nicht Beide?“
„Fürchtest Du Dich wieder?“
„Fürchten?“ Du kennst mich, Fritz. Den Teufel fürchte ich nicht.“
„Aber den Duncker.“
„Aber vier Augen sehen mehr als zwei.“
„Aber, wenn ich abgefaßt werde, so kostet es mich zehn Jahre Festungsarbeit; Dich können sie höchstens auf drei Monate in den Ochsenkopf sperren.“
Das berliner Arbeitshaus heißt unter den betheiligten Personen der Ochsenkopf.
Der Alte im grauen Flausch kehrte nach dem Hause Markgrafenstraße Nummer 92 zurück, während sein Gefährte in der Lindenstraße vor dem Kammergerichte auf und abging. In der unmittelbaren Nähe des Centralpalastes der Gerechtigkeit in Preußen schien er sich am Sichersten zu fühlen. In der That war er damals dort am sichersten vor der Polizei.
Der Alte betrachtete vorsichtig noch einmal das Haus; dann stieg er keck, als wenn ihn ein Geschäft in das Haus führe, die steinerne Treppe hinan und drückte an dem Schlosse der Hausthür, um zu versuchen, ob diese von außen zu öffnen sei, oder ob er klingeln müsse. Die Thür ging auf. Der Alte schmunzelte vergnügt. Er trat in das Haus. Das Haus war nach gewöhnlicher berliner Art gebaut. Ein etwas schmaler Hausflur, zu beiden Seiten desselben Thüren, am Ende eine Treppe, die in die oberen Etagen führte. Unter der Treppe brannte eine Laterne, die den Flur schwach erhellte. Der Alte besah Alles genau, las die Namen auf den Schildern an den Thüren, und entfernte sich dann wieder. Niemand hatte ihn gestört.
Sein Gefährte wartete seiner am Kammergerichte.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 484. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_484.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)