Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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No. 35. | 1855. |
(Schluß.)
So verflossen acht Tage, ohne daß Josephine, die weder Besuche gab noch empfing, nach der Familie Bornstedt gefragt hatte. Philipp änderte nichts in seinem Betragen, aber er beobachtete jeden Umstand mit großer Aufmerksamkeit. Zunächst faßte er die Kammerfrau in’s Auge. Eines Tages kam er eine Viertelstunde früher als gewöhnlich. Meta öffnete ihm die Thür.
„Wo ist Josephine?“
„Madame hat im Augenblicke ihre Toilette vollendet.“
„Sie ist jetzt noch bei der Toilette?“
„Weil sie eine Spazierfahrt zu machen gedenkt. Der Wagen ist um elf Uhr bestellt. Sie rechnet fest auf Ihre Begleitung. Das Wetter ist schön, Madame will den Tag auf dem Lande zubringen.“
Philipp war erfreut über diesen Plan; er erblickte darin eine Aufmerksamkeit für seine Person, die er schon längst erwartet hatte. Um Josephinen zu überraschen, ging er nicht in das gewöhnliche Empfangszimmer, sondern in das Boudoir. Josephine befand sich in dem angrenzenden Schlafkabinette. Hut und Shawl lagen auf dem Sopha. Meta war dem jungen Manne auf dem Fuße gefolgt. Als Philipp sie fragend ansah, glaubte er eine Aengstlichkeit in ihren Zügen zu erblicken, die sie umsonst zu verbergen suchte. Mit einem erzwungenen Lächeln deutete sie auf die Thür des Kabinets, und dabei suchte sie sich dem Spiegeltische zu nähern. Diesen kleinen Manövern hätte Philipp keine Bedeutung beigelegt, wäre sein Verdacht nicht längst rege gewesen.
„Dort!" flüsterte Meta. „ueberraschen Sie Madame!“
„Sie will mich entfernen,“ dachte der bestürzte Philipp, „hier geht etwas vor.“
Und zugleich ließ er seine Blicke durch das Zimmer schweifen. Da sah er einen erbrochenen Brief auf dem Spiegeltische liegen.
„Gehen Sie nur hinein!“ flüsterte Meta, indem sie zwischen ihn und den Spiegel trat.
Ihr Bemühen, das Papier seinen Blicken zu entziehen, war unverkennbar.
„Sagen Sie Madame, daß ich sie begleiten würde!" flüsterte Philipp mit bebender Stimme.
Meta erschrak, als sie bemerkte, daß das Erblicken des Briefes eine solche Wirkung hervorgebracht hatte. Sie ging rücklings dem Tische zu, und ergriff mit den Händen, die sie auf den Nacken gelegt, das Papier. Das war ein unzweideutiger Beweis von der Wichtigkeit desselben, und daß man es ihm verheimlichen wollte. Das Blut stieg ihm zu Kopfe und alle Rücksicht vergessend, entriß er mit bebender Hand der Kammerfrau das Papier. Meta war so bestürzt, daß sie erbleichend auf einen Sessel sank. Philipp öffnete den Brief, und zu seinem Entsetzen fand er ein zärtliches Gedicht, dessen Anfangsbuchstaben den Namen Josephine Lindsor bildete. Dann verschlang er die Zeilen, die das Gedicht begleiteten.
„Geliebte, anbetungswürdige Frau!
„Zwar nur seit kurzer Zeit genieße ich das Glück Ihres vertrauten Umgangs, aber Sie haben mir eine Achtung und eine Liebe eingeflößt, die mein ganzes Herz ausfüllen. Nehmen Sie mich an, theuerste Josephine, ich bin der Ihre mit Leib und Seele. Feiern wir morgen schon in aller Stille unsere Verlobung, ich will Sie nicht länger in der Ungewißheit über meinen Entschluß lassen. Eine Vereinigung, die aus so edeln Motiven hervorgeht, kann nur glücklich werden. Mögen die Engländer mit dem Vermögen Ihres verstorbenen Mannes beginnen, was sie wollen, Sie sind die unbeschränkte Besitzerin des meinigen. Mit großer Zärtlichkeit, der ich in beifolgenden Zeilen Ausdruck verliehen, erwartet den morgenden Tag
Der Magister hatte Recht gehabt. Eine Todtenblässe überzog des armen Philipp’s Gesicht, während er das verhängnißvolle Papier, das sein ganzes Lebensglück mit einem Schlage vernichtete, in der bebenden Hand hielt. So traf ihn die reizend geschmückte Josephine, die in diesem Augenblicke eintrat.
„Was ist das?“ fragte sie überrascht, und indem sie einen vorwurfsvollen Blick auf Meta warf.
Ungeachtet seiner furchtbaren Verfassung hatte Philipp diesen Blick bemerkt.
Meta wollte sich rechtfertigen. Josephine befahl ihr, das Zimmer zu verlassen. Philipp war mit seiner Gattin allein. Er sah sie mit Blicken des tiefsten Schmerzes, der bittersten Verzweiflung an.
„Philipp,“ sagte Josephine ruhig, „ich errathe Alles.“
„Und Du zitterst nicht?“ rief er unter Thränen aus. „Du hast den Muth, mit dieser Miene Deinem schwer betrogenen Gatten unter die Augen zu treten, während er die Beweise Deiner Schuld, Deines gräßlichen Betruges in der Hand hält?“
Die junge Frau zuckte leicht zusammen; dann aber kehrte ihre vorige Ruhe zurück.
„Philipp,“ sagte sie, „ich beklage den unglücklichen Zufall, der Dir ein Geheimniß verrieth, das Du erst später erfahren solltest.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 455. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_455.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)