Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Stollberge kamen, versetzte sie sich in’s Mittelalter, so als ob sie als Aja bei irgend einem Hofe des Orients angestellt sei; seit dieser Zeit blieb ihr der Name „Frau Aja.“ Goethe erzählt eine Scene aus der Anwesenheit der Grafen (im Auszug) also: „Die Grafen waren damals voll Ungestüm, und nach einer und der andern genossenen Flasche Wein kam der poetische Tyrannenhaß zum Vorschein, und man erwies sich lechzend nach dem Blute solcher Wütheriche. Um dies in’s Heitere zu wenden, verfügte sie sich in ihren Kellerm, wo ihr von den ältesten Weinen wohl unterhaltene große Fässer lagen, Jahrgänge 1706, 1719, 1726, 1748, von ihr selbst gepflegt und nur bei feierlich bedeutenden Gelegenheiten in Anspruch genommen. Mit diesem Gewächs erschien sie wieder vor den lautgewordenen Jünglingen und rief ihnen zu: „Hier ist das wahre Tyrannenblut! daran ergötzt Euch, aber alle Mordgedanken laßt mir aus dem Hause.“
Ihres Sohnes Abgang nach Weimar geschah mit durch ihre Vermittelung; aber sie selbst reisete erst dorthin, als nach dem Tode des Vaters der Sohn sie einlud. Sie führte ihr Haus und ihre Wirthschaft ganz in alter Weise fort bis 1794, wo sie Alles verkaufte und eine kleinere, aber freundlich-behaglicher Miethwohnung an der „Hauptwache“ bezog. – Im Jahr 1797 bekam sie Besuch von Goethe’s ehelicher Freundin, der viel genannten Vulpius, später erst Goethe’s Gemahlin. Es spricht wohl sehr für diese viel Geschmähte, daß die herrliche Frau Rath sie stets sehr gern und respektirt hatte; sie nannte sie in vielfacher Correspondenz ihre „liebe, liebe Tochter,“ und verstand ganz praktisch sicher, daß gerade diese Natur durchaus für ihren Sohn passe. Das ist wohl beachtenswerth. – Das Theater blieb ihr bis zum Tode eine Hauptleidenschaft, und die Matrone benahm sich darin als Hauptperson und wie zu Hause; dies als ganz natürlich angesehen von den Frankfurtern, die hier alle mögliche Huldigungen ihr darbrachten. Im Goethe-Zelter’schen Briefwechsel wird z. B. erzählt: „Es wurden Goethe’s „Geschwister“ gegen; das Haus war wegen der Hitze sehr leer. Da rief sie auf’s Theater: Herr Verdy, spielen Sie nur tüchtig, ich bin da, worauf Verdy und alle übrigen sehr gut, ja begeistert spielten.“ Als Alles vorüber war, schrie sie ganz laut: „Ich bedanke mich schön und will es auch meinem Sohn schreiben.“ Darauf fing sie eine Unterhaltung an, und das ganze Publikum hörte mit großer Aufmerksamkeit zu, bis die Frau Rath das Haus verlassen hatte.“
Gern möchten wir die außerordentliche Matrone noch begleiten durch die zwei letzte Jahre ihres Lebens, wo sie im Umgang mit dem wunderbaren Mädchen Bettina sich noch so recht in vollstem Glanze ihres Herzens und Geistes und im Phantastischen zeigte; wo die herrlichsten Lebens- und Herzensäußerungen von ihr ausgingen; gern noch schildern die rührende prächtige Scene, wo sie sich im reichsten Anzuge der berühmtesten Frau ihrer Zeit, der Frau von Staël, vorstellte mit den Worten! „Je suis la mère de Goethe!“ gern noch ausführlich erzählen, wie Tiek ihr als Dr. Gall vorgestellt wurde und sie ihm sogleich ihren weißen Kopf hinhielt, damit derselbe untersuchen sollte, was ihr Sohn von ihr habe; wie sie dann aber hell auflachte, angeführt zu sein; noch lieber möchten wir genau die wunderbare Ruhe und Heiterkeit beschreiben, mit der sie ihren Tod herannahen sah; doch der Raum geht zu Ende, wir müssen Abschied nehmen von der herrlichen Frau, wie sie nun auch Abschied nahm von der Erde. Am Morgen ihres Todestages, den 13. September 1808, war sie noch zu einer Gesellschaft eingeladen; da ließ sie wohlgemuth antworten: „Die Frau Rath kann nit kommen, sie hat alleweil zu sterben.“ – Nun ordnete sie ihr Leichenbegängniß auf’s Pünktlichste an; bestimmte den Wein und Kuchen, der bei ihrem Begräbniß gegeben werden sollte, gebot den Mägden, ja nicht zu wenig Rosinen in die Kuchen zu geben und meinte dabei: „Das konnt’ ich mein Lebtag nit leiden und würde mich noch im Grabe darüber ärgern.“ Sie starb in der Nacht; als die ächte „Frau Rath,“ als die wahre „Frau Aja,“ ruhig, weise, liebevoll, in alttestamentlicher Gottesfurcht, „voll Zuversicht auf den unwandelbaren Volks- und Familiengott.“
Wanderung durch Deutschland in London.
„Es wäre so weit ganz hübsch in London, wenn sich nur nicht immer noch zu viel Engländer unter uns herumtrieben," sagte einmal ein berliner Witzbold in einer londoner deutschen Kneipe, und zu mir ein ander Mal die Frau eines alten, pensionirten Policeman, die sich der „rein englischen Zeit“ noch erinnern konnte: „in hundert Jahren giebt’s keine Engländer mehr in England.“ Das scheint auch wirklich so. Die eigentlichen Engländer haben schon seit 780 Jahren nichts mehr zu sagen in England. Nachdem der normännische Wilhelm der Eroberer das Land den Angeln, Sachsen, Dänen u. s. w., die nach einander erobert und geherrscht, abgenommen und unter seine Ritter vertheilt hatte, herrschten diese bis heute, und wenn sie neuerdings von ihrer Herrlichkeit viel verloren haben und vielleicht noch mehr verlieren, gewinnen’s nicht die alten Anglo-Sachen oder eigentlichen Engländer, sondern die neuen Normannen oder Franzosen und die Deutschen. Wie leicht können die Franzosen einmal über Nacht herüberkommen, wieder bei Hastings, wie Wilhelm der Eroberer, landen, sich mit den dort in der Nähe lagernden 3000 Mann deutscher Fremdenlegion verbinden und die französisch-englische Alliance dadurch bekräftigen, daß sie England ganz in Frankreich aufgehen lassen! Soldaten mit Patriotismus, das Land zu vertheidigen, giebt’s ja nicht mehr, und die Engländer im Civil bewiesen dem Kaiser Napoleon im April so brennende, illuminirte Liebe und Verehrung, daß er vielleicht schon damals außer den Leuten auch das Land erobert hätte, ohne einen Schuß Pulver daran zu wenden, wenn er nur den Wunsch geäußert haben würde: „Gebt mir das Land. Herren, die regieren können, habt ihr ja doch nicht mehr! Ich will euch den alten constitutionellen Schwindel mit Lappen aufflicken, die nicht mehr halten, abnehmen und eine ganz neue Staatsmaschine geben!“
Doch das ist ausschweifende Phantasie. Eigentlich wollte ich blos auf das historische Faktum, das man bei Beurtheilung Englands in der Regel übersieht, aufmerksam machen, daß die Engländer kein Volk, keine Nation sind, sondern das bunteste Gemisch der verschiedenen Völker und feindlichsten Racen: Picten, Scoten, Dänen, Angeln, Sachsen, Caledonier, celtische Hochländer, Polen, Juden, Franzosen, Griechen, Italiener, Ostindier, Waliser und die schlimmsten und mißhandeltsten von Allen, die Ireländer, endlich die überlegendsten und gefährlichsten von Allen, 39 Sorten Deutsche. Allerdings hatte sich ein isolirter englischer Charakter und Typus ausgebildet: kaltes, sorgfältig rasirtes Gesicht zwischen steifen Vatermördern und rothblondem Backenbart, kostbare Weste, kein Hinterkopf, Rock und Hosen, die sehr viel kosten und niemals passen, lange Beine, schiebender Gang mit den Knieen, innen sehr weit vor, Hut hinten über hängend wegen Mangel an Hinterkopf, wodurch die kalte, herzlose, steife Physiognomie mit einer starken Färbung von Dummheit überhaucht wird, kurz, der englische „Mylord“, der in ältern, deutschen Lustspielen so lange abgehetzt ward; aber „Mylord“ hat bedeutend aufzuhören angefangen seit den großen Ueberschwemmungen von 1848 vom Continente her, besonders seit der großen Ausstellung von 1851. Er verschwindet zusehends in französischen Moden, deutschen Meistern, Meubles und Materien, deutschen Stubenmalern und Mechanikern, deutschen Lehrern und Schneidern. Im Allgemeinen erkennen freilich die
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 449. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_449.jpg&oldid=- (Version vom 2.7.2023)