Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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erweitert und weiter greift, so zwingt er wieder die an der alten Stätte Gebliebenen, die Contraste nicht zu grell werden zu lassen und dem rüstig Aufstrebenden möglichst nachzukommen. Bei diesem Wettstreite des alten und jungen Zürich haben Geschmack und Schönheit nur gewonnen; und man wird kaum in der Annahme irren, daß mit ihm auch der letzte Rest jenes Spießbürgerthums allmälig verschwinden dürfte, das seinen nicht immer gefälligen Anstrich in einer Zeit erhielt, wo die grauen stolzen Mauern zugleich das Symbol der Herrschaft und des Vorrechts über die Landschaft bildeten. Nirgends vielleicht auch ist der Geist der neuen Zeit so entschieden und doch so gemäßigt eingezogen als in Zürich; es hat sich schneller in ein gemeinsames Volksleben gefunden und rascher den Zopf unnatürlicher Absonderung mit kühner Hand abgeschnitten. Freilich ist dies nicht überall völlig gelungen und schaut er noch da und dort heraus; gestehen muß man aber doch, daß ein tüchtiger Schritt aus dem zweideutigen Mittelalter und aus vielfach kleinlicher Enge heraus gethan ist einer Entwickelung entgegen, in der wir monarchischen Deutschen mit unserer universellen Bildung längst schon stehen, ohne daß Viele es wissen oder anerkennen wollen. Niemand versteht es besser, sich selbst für recht gründlich schlecht zu halten als der Deutsche!
Eine oberflächliche Beobachtung redet sich gar leicht ein, der Züricher lasse die wesentlichsten Züge des specifischen Schweizerthums großentheils vermissen. Dies ist ein Irrthum, den ein etwas längerer Aufenthalt bald zerstört. Ein ungemein gesteigerter persönlicher Verkehr mit Fremden läßt ihn sein charakteristisches Gepräge gewissermaßen mehr nur verhüllen, als daß es verwischt wäre. Er theilt mit allen seinen Stammgenossen die nüchterne Verständigkeit, den praktischen arbeitsamen Sinn, die verschlossene mißtrauische Abneigung gegen Fremdes, das geringe Verständniß der ideellen Seiten des Lebens; anderntheils aber entdeckt man doch wieder unter den verschiedenen Farbentönen, welche die moralische Physiognomie der Bewohner der einzelnen Schweizercantone, so sehr diese im Grunde den Nationalcharakter zeigen, unterscheiden, den Züricher überall leicht. Mehr als irgendwo hat sich bei ihm von je ein entschiedener Geschmack für die Wissenschaften, wenn auch vorzugsweise nur für die realistischen, entwickelt; – er darf ohne Ueberhebung an eine lange Reihe trefflicher Namen erinnern, die ein verdienter Ruf in den Jahrbüchern des kleinen Staates ausgezeichnet hat, und noch heute ist es Zürich, dessen wissenschaftliches Streben, dessen Schulwesen, dessen Bildungstrieb unbedingt die erste Stelle einnimmt. Für die besondere Liebe zur Arbeit spricht der Fleiß, der einem nicht gerade überall fruchtbaren Boden die möglichsten Früchte abringt, und eine blühende Industrie; für die kluge Benutzung aller Vortheile ein bedeutender solider Handel. Man rühmt ferner dem Züricher eine große Schnelligkeit in den Entwürfen, verbunden mit der zähesten Ausdauer in der Ausführung nach, und sprüchwörtlich ist seine „Weisheit.“ Bedeutende Männer im Rathe und zur That haben ihm nie gefehlt. Dies sind gar achtbare Dinge, worüber man wohl auch vergessen kann, daß der allgemeine Nationalzug einer bedächtigen Sparsamkeit zuweilen ein wenig liebenswürdiges Gepräge zeigt und uns gemüthlicheren Deutschen die Traulichkeit vor der schweizerischen Ausschließlichkeit und Abgeschlossenheit fast verloren geht.
Eines nur haben wir Zürich und Allen, die über dasselbe schreiben (es sagt es Einer dem Andern nach), nie recht verzeihen können: die Koketterie mit der Bezeichnung als „schweizerisches Athen.“ Wozu sich mit fremden Federn schmücken wollen, wenn man eigene glänzende genug hat? Und fremde Federn sind wahrlich dieses „Athenenthum!“ Verstände man darunter noch einen gewissen republikanischen Geist, der sich auf verschiedenen Gebieten auch in kleinem Raume vielseitig und rühmlich entwickelt hat, und mit den Ueberlieferungen einer reichen, tüchtigen Vergangenheit einer nicht minder wackern Zukunft entgegenstrebt, so würden wir uns noch mit jenem vielmißbrauchten Beiworte versöhnen mögen; aber in dieser Bedeutung faßt man es ja nicht, und in der gewöhnlichen und am Ende allein gerechtfertigten paßt es nicht. Es fehlt der Vergleichspunkt. Jene duftiger Blüthe griechischen Geistes, griechischer Kunst und Poesie, wie sie vor Allem in Athen sich entfaltet, erlaubt uns nicht, hier ihr Spiegelbild zu erblicken; Kunst und Poesie haben (mit geringen Ausnahmen) in der Schweiz überhaupt nie einen rechten Boden gefunden, die Philosophie keine besondere Pflege; und die attische Urbanität, die Aesthetik des griechischen Lebensgenusses, von einem heitern wolkenlosen Himmel begünstigt, ist kein Charakterzug des Zürichers. Dies soll und kann kein Vorwurf sein; nicht Alle können und sind Alles; aber es soll einen Irrthum zerstören und eine immer wieder nachgeplauderte Phrase, in der wir nicht einmal eine Schmeichelei erblicken können, auf ihren rechten Werth zurückführen. Zürich hat des eigenen Ruhmes genug, und wäre es auch nur der Eine (wie er es doch nicht ist), die Wiege einer Reformation gewesen zu sein, die in Zwingli ein so ernstes, hochsinniges, praktisches, Staat und Kirche gleich umfassendes, und doch so ächt und mildchristliches Haupt gefunden, einen Mann, zu dessen ganzem Bilde in der gährenden Zeit der Wiedergeburt auch sein heldenmütiges Ende an dem Unglückstage von Cappel gehört.
Die Umgebung Zürichs trägt zwei große Gräber: das eine ein einfacher Stein an jener Stätte, wo Zwingli gefallen, das andere versunken, verschwunden, nicht mehr gekannt. Beide gehören mächtigen Zeugen des freien lebendigen Menschengeistes an, die im Leben, wenn auch auf verschiedener Bahn, gleichem Ziele nachgerungen, und die das Schicksal in räumlich geringer Entfernung in dieselbe freie Erde betten sollte. Auch darin möchten wir eine Aehnlichkeit finden, daß von dem irdischen Theile des großen Reformators gerade nur noch die Stelle seines Todes redet – die Leiche verbrannte die thörichte Rache der Feinde, die Asche ist in die Winde zerstreut – ein fruchtbarer Same! – von dem zweiten Ritter des gewaltigen Geisteskampfes kennt man selbst die Stätte der Asche nicht mehr. In friedlich anmuthiger, fruchtbarer Gegend, auf die des Rigi schöne Pyramide herüberschaut, in der Nähe von Cappel trägt zu Zwingli’s Gedächtniß ein rohgelassener Findlingsblock auf eiserner Tafel folgende Inschrift: „Den Leib können sie tödten, nicht aber die Seele. So sprach an dieser Stätte Ulrich Zwingli, für Wahrheit und der christlichen Kirche Freiheit den Heldentod sterbend, den 11. October 1531.“
Auf den klaren Wogen des Zürichsees, schon auf schwyzer Gebiet, im Angesicht der glarner und appenzeller Alpen, schwimmt ein kleines üppig grünendes Eiland, die Ufnau. Hier fand Hutten die letzte Ruhe. Vom Sturm des Lebens und der Leidenschaft, der edelsten für stolze volle Menschenfreiheit, matt gehetzt, müde der Welt und ihrer Dornen, hatte der merkwürdige Mann, der Ritter des Liedes und Schwertes, von dem ein lateinisches Pamphlet einen Fürsten von Land und Leuten getrieben; der rüstigste Waffenträger Luther’s und doch eigenen selbstständigsten Geistes voll, dessen: „Ich hab’s gewagt!“ der die Banden einer barbarischen Finsterniß sprengende Ruf nach der Morgenröthe eines helleren Tages gewesen – den irrenden Fuß auf die Insel gesetzt. Erasmus in Basel hatte nicht gewagt, den Verfolgten und Verbannten aufzunehmen. Zwingli schickte den zum Tode Erkrankten in die treue Pflege seines Freundes, des Pfarrers der Ufnau und Conventualen des Klosters Einsiedeln. Hier endete Hutten, wenigstens in den letzten Tagen in ungestörter Einsamkeit, sein unruhiges Leben. Ob der kleine jetzt verödete Friedhof oder eine nun verfallene Kapelle sein Grab enthalten? fast Jeder erzählt es anders. Der Grabstein, den Freunde ihm mit der Aufschrift: „Hic eques auratus jacet, oratorque disertus, Huttenus vates, carmine et ense potens,“ einst gesetzt, ist längst verschwunden – der fromme Eifer der Mönche von Einsiedeln mag die Spur von dem Denkmal eines Ketzers auf ihrem Grund und Boden nicht gewollt haben. Heute ist die ganze Insel mit ihren zerfallenden Menschenwerken, aber im immer wiederkehrenden Schmucke der Natur das Grab eines der größten und edelsten Geister.
Der Canton Zürich, in geistiger und ökonomischer Beziehung unbestritten die erste Stelle in der Eidgenossenschaft behauptend, gehört zur sogenannten ebenen Schweiz. Man hat dabei den mächtigeren Gegensatz der Alpenregion im Sinne, und nennt so seine immerhin stattlichen Höhen, die an einigen Punkten unsern Brocken überragen, nur Hügel. Entbehrt er der großartigen und romantischen Schönheiten des höheren Gebirges, so würde man doch irren, wollte man ihm einen ungemein reichen Wechsel landschaftlicher Reize absprechen. Nur ist ihr Charakter mehr die bescheidene Anmuth als die überwältigende Größe. Aber man versuche es nur: man verlasse die gerade Linie der Heerstraße, den plattgetretenen Weg der Touristik, dringe in so manches nebenliegende Thal – und das Auge wird sich an der bunten Fülle einer reizenden Natur und den überallhin dringenden Spuren emsiger Menschenhand erfreuen: Und dann – wo Ihr einen erhabenern Standpunkt ersteigt, als Hintergrund eines blühenden wohlbebauten Gartens,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 436. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_436.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2023)