Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
|
Land und Leute.
Wie man einen Menschen mehr als einmal sehen muß, um ihn zu kennen, wie man ihn in Freud’ und Leid, im Werkeltags- und im Sonntagskleide beobachten sollte, so eine Gegend, ein Land, einen Volksstamm. Man muß sie im Regen und bei Sonnenschein gesehen haben. Was ein scharfes Auge geliefert, ein prüfender philosophischer Geist gesichtet, mag dann einigermaßen der Wahrheit und Natur nahekommen. Bloße Reiselust reicht nicht aus; Reisen ohne zu untersuchen, ist noch weniger als nichts; und man könnte Dutzende jener blos oben abgeschöpften Werke, in denen das hundertmal Wiederholte allenfalls mit den Notizen unwissender Führer oder gleichgültiger Kellner verbrämt ist, in ein einziges extrahiren, ohne damit seinem Zwecke viel näher zu kommen. –
Zürich ist die Vorrede zu einem wundervollen Buche, die Vorhalle zu einem Tempel voll geheimnißvoller, erhabener Schönheiten. Man soll Vorreden nie ungelesen lassen; oft wiegen sie das Buch selbst auf. Dies ist zwar hier nicht der Fall; aber gereut hat es wohl noch Niemanden, der aufmerksamen Auges die reizend geschriebenen Blätter durchgegangen, welche eine freigebige Natur in ihrer besten Laune dem verständigen Freunde entgegenreicht. Man muß, ein Glückskind des Wetters, an einem schönen Morgen oder bei dem Abendglanze eines heitern Tages von dem freundlich zwischen grünen Forsten und Weinbergen gelegenen Winterthur her den letzten Hügel vor Zürich überwunden haben, um nun vor dem entzückten Blicke ein Gemälde entfaltet zu sehen, wie kaum der Weitestgewanderte ein zweites in gleicher Schönheit aus dem Schachte seiner reichen Erinnerung vergleichend hervorholen dürfte. Da hat uns die Stadt schon ihre neue lichtere Seite entgegengeschickt in den stattlichen Gebäuden des Cantonsspitals und der Cantonsschule und manch’ anderm geschmackvollen Hause in anmuthiger Umgebung; aber kaum reizt uns das Nächste, selbst nicht drunten im Thale ihr alter gedrängterer Kern mit den hohen und spitzen Thürmen; denn das Auge schweift vor Allem suchend nach dem schönen See, der durch die grüne Herrlichkeit üppiger Baumgruppen und Weinberge, zwischen den hellen Häuserstreifen blauend heraufschimmert und uns sofort mit dem ganzen magischen Zauber anzieht, den die spiegelnde Seele einer Landschaft, Fluß oder See, auf uns zu üben pflegt. Und welcher See! welch’ immer wechselnder Reiz auf diesen klaren, grünen Wogen, die uns in Zweifel lassen, ob sie sich sehnsüchtig zu den Stätten der Menschen gedrängt, oder ob diese nicht nahe und enge genug die Arme um das weiche flüssige Element haben schlingen können.
Die Hauptstadt des kultivirtesten und bevölkertsten Cantons der Eidgenossenschaft ist längst über ihre alten Mauern und Bollwerke hinausgewachsen, in deren engen Kreis sie einst ein Knäuel schmaler, dumpfer Gassen mit alten finstern Häusern eingezwängt hatte. Sie hat auch jene selbst entfernt, oder, wo dies nicht geschehen, sind sie zum grünen Grunde für geschmackvolle weitsichtige Gebäude geworden. Mit dem Zutritte von Luft und Licht gewinnt aber die innere alte Stadt selbst täglich; und wie der junge Aufwuchs draußen längs der blühenden Seeufer sich mehr und mehr
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 435. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_435.jpg&oldid=- (Version vom 30.6.2023)