Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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No. 33. | 1855. |
(Fortsetzung.)
Es war gegen Abend als er die Wohnung Anna Bornstedt’s aufsuchte. Er fand bald das bezeichnete Haus, das einem Positiven angehörte. Parterre befand sich ein Schuhmacherladen, im ersten Stocke wohnte ein Advokat und ein Arzt, im zweiten Stocke wohnte ein Agent und ein Advokat, im dritten Stocke wohnte ein Arzt und eine Leichebitter – beide Schilder prangten neben einander an der Saalthür, – im vierten Stocke wohnte ein Briefträger und Polizeidiener, und im fünften Stocke, wo die Holzgitter anfangen – –
Wir begleiten Philipp. Er öffnete eine aus Latten zusammengenagelte Gitterthür und trat auf einen schmalen, halbdunkeln Gang, der sich unmittelbar unter dem Dache befand. Als man seine ziemlich lauten Schritte nicht hörte, klopfte er an die Thür, die sich ihm zunächst zeigte. „Herein!“ rief eine dünne Stimme. Philipp trat in ein kleines Zimmer mit schräger Decke. An einem Tische der Thür gegenüber saß ein kleines zusammengeschrumpftes Männlein, das die Feder in der Hand hielt und sich neugierig umsah. Sein Gesicht zählte so viel Runzeln, als sein Haupt weiße Haare. Ein kleines mit alten Büchern angefülltes Bret deutete seinen Stand an. Er war ein Magister, der kümmerlich von seiner Feder lebte. Hinter einem Breterverschlage, der mit verschiedenen Stücken alter Tapeten verklebt war, hörte man das Leben und Schreien einer zahlreichen Familie.
Der Magister erhob sich, als er den jungen eleganten Mann erblickte.
„Verzeihung, mein Herr, ich suche Demoiselle Anna Bornstedt!“ sagte Philipp.
„Fräulein von Bornstedt!“ flüsterte freudig überrascht der kleine Magister. „Das junge Mädchen, lieber Herr, ist ein Fräulein.“
„Ganz recht!“ antwortete Philipp mit bewegter Stimme, denn er sah, daß er auf der rechten Spur war. „Wohnt die junge Dame hier?“ fragte er, indem er beschämt durch den traurigen Raum blickte.
„Sie hat mir ein Zimmerchen abgemiethet, lieber Herr! Sie wundern sich, daß ein adeliges Fräulein bei einem armen leipziger Magister wohnt – ach ja, man kann sich wohl darüber wundern, denn der Contrast ist ein schneidender. Die arme Anna steht mit mir auf gleicher Stufe: sie besitzt nichts weiter als ihren Adel, und ich habe nichts als meine Magisterwürde. von beiden kann man nicht leben. Sie wollen das Fräulein sprechen – ich werde sie rufen.“
„Ich bitte, Herr Magister, hören Sie mich einige Augenblicke an. Sind Sie mit den Verhältnissen der jungen Dame bekannt?“
„Wie wohl kein Zweiter in unserer guten Stadt. Ich war einst Hauslehrer bei dem Herrn Amtmann von Bornstedt, und Fräulein Anna ist meine Schülerin. Ach, es war eine schöne Zeit, als ich auf dem reizend gelegenen Rittergute unter den vortrefflichen Menschen lebte! Ach, mein Gott, ich habe vergessen, Ihnen einen Stuhl anzubieten. Nehmen Sie doch gefälligst Platz.“
„Ich will Sie nicht lange in Ihrer Arbeit stören!“ sagte Philipp, sich niederlassend. „Die junge Dame hat in einem gewissen Kreise Interesse erregt, und man ist gesonnen, sich ihr hülfreich zu zeigen.“
„Das lohne Ihnen Gott, lieber Herr!“
„Fräulein von Bornstedt bot eine Arbeit zum Kaufe an.“
„Eine kostbare Stickerei?“
„Ja!“
„So hat sie sich dennoch überwunden!“ flüsterte der Magister schmerzlich vor sich hin. „Anna ist ein herrliches Gemüth, eine seltene Perle! Ach, warum bin ich so arm? Es sollte wahrhaftig nicht so weit kommen, hätte mich der Himmel auch nur mit geringen Glücksgütern gesegnet. Und Ihnen hat sie den Kauf angetragen?“
„Einer Dante, die zu mir in naher Beziehung steht. Es handelt sich weniger darum, in den Besitz des kostbaren Kleides zu kommen, als der armen Stickerin, ohne zu verletzen, wirksame Hülfe zu leiste. Ich ward beauftragt, zu diesem Zwecke Erkundigungen einzuziehen.“
„Dann ist es Pflicht, daß ich rede! Ja, mein Herr, die Noth der armen Menschen ist groß, und um so drückender, als sie unverschuldet in diese traurige Lage gerathen sind. Der alte Herr von Bornstedt war einst ein reicher Rittergutsbesitzer, aber ein schurkischer Freund brachte ihn durch einen Prozeß, dessen Einzelnheiten ich nicht wiederholen kann, um das Seine. Die Bosheit dieses Freundes ging so weit, daß der arme Mann selbst die Revenüen herauszahlen mußte, die er während der Dauer des Prozesses gezogen hatte. So kam es, daß die Familie mit einem Schlage in das tiefste Elend gerieth. Sie wandte sich zunächst nach Breslau, wo Anna und Adolph – dies ist nämlich ihr Bruder – durch Arbeit die Subsistenzmittel für die betagten Aeltern zu erringen hofften; aber sie täuschten sich, und in den zwei Jahren, die sie dort lebten, mußten sie die wenigen Kostbarkeiten nach
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 431. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_431.jpg&oldid=- (Version vom 20.12.2019)