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Seite:Die Gartenlaube (1855) 389.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

zu „vertuschen und zu bemänteln,“ andererseits hatte Lord John Russel an demselben Abende Enthüllungen über seine wiener Mission gegeben, bei deren schmachvollem Inhalte selbst dem Russen- und Friedensfreunde Cobden der Verstand still stand und die Galle überlief. Russel hatte Instructionen gehabt, Frieden um jeden Preis zu machen. Die „Ehre“ Englands war verrathen und verkauft und wurde diesmal nur durch Napoleon mit eingelös’t. Also darum hat man uns 50,000 Brüder, Söhne und Väter und 100 Millionen Pfund Sterling todtgeschlagen, darum Handel und Gewerbe, unsern Lebensunterhalt, unsere Angehörigen und uns ruinirt und mit den Schrecken und Lasten eines Kriegs überbürdet, damit unsere aristokratische Regierung uns dennoch an Rußland verkaufe? In diesem Sinne ward es Sonnabends und Sonntags überall auf den Straßen laut, und im Hyde-Park formirten sich Nachmittags unabsehbare Gruppen mit je einem Redner in der Mitte. Da aber die Polizei heute Instructionen hatte, nicht einzuschreiten und sich im benachbarten „Green-Parke“ für die äußersten Fälle versteckt und bereit zu halten, blieb es im dichtesten Gedränge von Hunderttausenden immer ziemlich ruhig, so lange und so weit ich sehen konnte.

Weder von Polizei, noch von aristokratischen Equipagen gereizt, regierten und beherrschten sich die Massen von selbst. Nur gegen Abend kam es vor der vornehmsten Häuserreihe Londons, der Parkstreet, welche die Westseite des Parks einrahmt, zu rohen Excessen. Ein Haufe Volks glaubte, hier den Palast des Lord Grosvenor ausgefunden zu haben, und zerschmetterte in merkwürdig kurzer Zeit alle die prächtige Spiegelscheiben desselben. Hier nun mußte die unglückliche Polizei, die heute glatt und bescheiden immer zu zwei und zwei Mann spärlich umher gegangen war, durch die ungeschickte und Feigheit mit Grausamkeit verbundenen Instructionen Lord Grey’s verhaßt und ohnmächtig geworden, hier mußte sie einschreiten. So packten ein paar Policemen just einen ganz unmündigen constitutionellen Staatsbürger von etwa zwölf bis vierzehn Jahren, und in eine Tracht gekleidet, deren Farbe und Form durchaus nichts mit weltlicher Civilisation gemein hatten, gerade im Akte des Steinwerfens, welchen er offenbar in der Ueberzeugung vornahm, daß er dadurch Andere, die nicht so gut werfen konnten, unterstütze, vielleicht auch rein zum Vergnügen, denn Kinder, zumal unerzogene, machen Alles gern nach, was ihnen Erwachsene Lustiges und Amüsantes vormachen. Dieser Polizeigriff war unter diesen Umständen bei aller voller Berechtignug der unglücklichste. Alle noch disponible Munition von Steinen ward hinter den beiden Policemen hergeschossen, wie sie mit dem Jungen abzogen. Sie retteten sich endlich mit ihrem Gefangenen in ein Arbeitshaus weiter innen in die Stadt, das nun belagert blieb, bis die Policemen zurückkamen. So wie sie sichtbar wurden, erhob sich ein furchtbares Heulen, Pfeifen und Zischen, unter denen Sturmfluthen die Policemen zusammengehauen versanken.

Als ich gegen Abend an der südlichen Piccadilly-Seite des Parks, wo die größte Wellington-Reiterstatue auf dem Thore reitet, mich herausdrängte, ward ich von einem gewaltigen Menschenstrome gepackt, der mich unaufhaltsam in den allervornehmsten und allertheuersten Square Londons (Belgrave-Square), wo sich das reichste Lordthum mit besonders potenzirter Hochkirchlichkeit verbindet, und in dessen grandiose Palaststraßen mit Spiegelscheiben hineinschwemmte. Die Paläste standen noch, aber ohne einzige ganze Scheibe. Ich zählte vierzig Paläste hinter einander, deren kostbare Augen alle ohne Ausnahme zerschmettert waren. Man sagte mir, daß es in den fünf Hauptstraßen um den Square herum ganz eben so aussähe. Niemand wußte, wenn diese Akte des Vandalismus eigentlich vorgenommen worden waren. Mich überfiel ein unsägliches Grauen und Entsetzen vor einem Palaste, dessen Straßenfront dicht mit Stroh bestreut gewesen war. Alle die großen dicken Spiegelscheiben strahlten in unendlichen Zickzacks von Spalten mit tiefen Löchern. An einer Stelle stack noch ein großer Stein mitten in der Scheibe. Andere waren blos mit Sternen von Spalten geschmückt, ohne daß der Stein durchgedrungen war. Die Scheiben, mannshoch von einem fleckenlosen Stück, 600 bis 1000 Thaler jede, sind von der Dicke bis zu einem Zoll. Das Stroh war verbrannt. „Also nicht einmal Rücksicht gegen Kranke, vielleicht Sterbende?“ rief ich. „Nahmen sie denn etwa Rücksicht auf unsere Brüder, die sie tausendweise auf der Krim sterben ließen?“ schrie mir Jemand von der Seite zu, indem sich seine Nüstern weit aufbließen.

„Aber wer ist der Kranke oder Sterbende hier innen? Wußte man, daß er Schuld an der Krim-Mißverwaltung trägt?“ –

„O, sie hängen Alle zusammen, sie Alle sind Schuld,“ war die Antwort.

Das alte Geschwür ist aufgebrochen. Wer kann dessen Verlauf nun beherrschen? Im Parlamente empfahl ein Herr Dundas, Verwandter des baltischen und schwarzen Meer-Dundas, Sechspfünder. Er mußte noch denselben Abend „revociren“ und die Times frug ihn, wo er sechs Stunden nach dem ersten Schusse mit einem Sechspfünder wohl sein würde? Die englische Regierung ist nicht auf Militair- und Polizeigewalt gebaut, sie hat factisch und physisch diese Gewalt nicht, deshalb war diese Erwähnung von Sechspfündern ein Mißton, der sofort durch alles Volk zuckte und es gestern Abend auf eine Wanderung trieb, um das Haus jenes Dundas zu entdecken.

„Die Demonstration“ ist in das Stadium einer blinden, stupiden und in seinen Ausartungen gemeinen Wuth, die sich in den niedrigsten, feigsten Akten des Fenstereinwerfens offenbarte, hinein „mißverwaltet“ worden, von wo sie sich leicht ohne Controle, wie eine Naturgewalt, eine Ueberschwemmung, ein Feuer, ein Erdbeben fortwälzen kann. Nach den letzten Russel’schen Enthüllungen haben sich die regierenden Klassen moralisch vollends todt gemacht. Im Allgemeinen sind die englischen Volksmassen sehr gutmüthig und leicht zu befriedigen. Etwas Klugheit und rasche Aufhebung der „Bier-Bill“ bringt den alten Mechanismus vielleicht wieder in Ordnung. Unter allen Bedingungen macht Palmerston, dessen Politik so lange gewährt, die Erfahrung, daß auch in seinem Gewerbe Ehrlich am Längsten währt. So lange er’s auch noch treiben mag, er hat gesehen, wie elend England durch ihn wurde, so durch und durch krank, daß eine gewöhnliche Polizeimaßregel ein gutmüthiges, dummes Volk zu blinder Wuth gegen die ganze herrschende Klasse Englands, und zu rohen nicht zu entschuldigenden Excessen trieb.




Aus dem Gewerbeleben.

Das unfreiwillige lange Creditgeben der Handwerker und Kaufleute.
(Ein Vortrag in der Versammlung der polytechnischen Gesellschaft zu Leipzig am 16. März 1855 gehalten von K. Biedermann.)
1. Die Nachtheile des langen Creditgebens.

Unter den vielen Widerwärtigkeiten, mit denen der Handwerker und der kleinere Kaufmann (der sog. Detailhändler) zu kämpfen hat, ist kaum eine für ihn drückender und für das Wohlbefinden, ja die Solidität dieses ganzen ehrenwerthen Standes bedrohlicher, als die weitverbreitete Unsitte, die Arbeiten des Handwerkers und die vom Kaufmann entnommenen Waaren erst nach längerer Zeit und auch dann noch oft nur auf wiederholtes Andringen, ja zuweilen nur nach Anwendung von Rechtsmitteln, zu bezahlen. Den Betrag der Summen, die auf diese Weise dem Handwerker und Kaufmann oft Jahre lang von seinem sauer verdienten Gelde entzogen werden, kann man gewiß im Durchschnitt auf 1/3, 1/2, wenn nicht noch mehr, den Betrag der ihm dabei gänzlich verloren gehenden auf wenigstens 1/10 seiner im Buche verrechneten Einnahme veranschlagen. Und wie viel Zeit kostet ihm die Eintreibung solcher rückständiger Posten, das wiederholte Ausziehen von Rechnungen und Ausfertigen von Mahnbriefen! Wie viel Störungen in seinem Gewerbebetriebe bringt es ihm zuwege! Wie sehr nimmt es seine Gedanken in Anspruch, zieht ihn also von seinem Geschäfte ab! Mit welchen Sorgen belastet es sein Gemüth, raubt ihm also die frische Kraft und den fröhlichen Muth des Schaffens! Und am Ende, wenn er sich lange mit der Eintreibung

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 389. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_389.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)