Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Kaiser Napoleon) jämmerlich mit ihrem Petitionszuge nach dem Parlamente zusammen- und auseinandergehauen. Der Chartismus zerfiel darauf auch in sich, und nur Robert Jones blieb als dessen Gespenst übrig, um in jedem Meeting zu erscheinen, seine „Charter“ zu verlangen und unter allgemeinem Tumulte hinaus geworfen zu werden. Keine Partei, kein Mensch wollte etwas von ihm wissen. So erschien er sechs Jahre lang in allen Meetings, so ward er sechs Jahre lang jedesmal hinaus geworfen, ohne müde oder bescheidener zu werden. Im Gegentheil trat er jedesmal entschiedener, gröber, fanatischer mit seinem unheimlichen Gesicht und der schneidenden, hellen, durchdringenden Stimme auf, um endlich einmal unlängst (am 10. Mai) im ersten Reform-Meeting (zur Auflösung der aristokratischen Privilegien für die höchsten und besten Staatsämter) nicht nur nicht hinaus geworfen, sondern sogar so weit gehört zu werden, daß die Banquiers und reichen Handelsherren des Meetings sogar einen Chartisten in ihre Commission aufnahmen.
Das verhaßte Gespenst war plötzlich ein respektabler Mann von Fleisch und Blut geworden, Vertreter eines Reform-Prinzips, das die Banquiers und Kapitalisten einst niedergeschlagen, und jetzt selbst bekannter Redacteur von „The Peoples Paper“ (Volks-Zeitung, Organ der Chartisten) und Spitze eines großen Theiles der Bevölkerung. Sie folgte ihm tausendweise am 24. Juni in den Hyde-Park und führte das Programm seiner Demonstration sehr pünktlich durch. Um die über den großen Flächenraum des Hyde-Parks (in welchem mehr als ganz Leipzig stehen könnte) zerstreuten Massen zusammenzubringen, ließ er einen „Auflauf“ über die größere Hälfte des Parks entstehen. Einige Leute wurden von andern schreiend verfolgt, mehrmals eingeholt, ihnen die Hüte „angetrieben“ und scheinbar Mißhandlungen aller Art beigebracht, so daß alle Köpfe über eine Quadratmeile (englisch) umher aufmerksam wurden und sich zusammenzogen, als den Verfolgten Polizei zu Hülfe kam, welche nun die Sache untersuchte, um zu hören, daß man blos Spaß gemacht habe. So waren aber mindestens 20,000 Menschen um einen Mittelpunkt zusammengezogen worden, die nicht so leicht wieder auseinander zu bringen waren, da Jeder erst wissen wollte, was eigentlich los sei. Die ausgelachte Polizei entfernte sich. Bald darauf ward der bekannte Kopf von Robert Jones in der Mitte über allen Köpfen sichtbar und auch sofort von seinem Stuhle weit, weit hörbar. Doch kaum hatte er fünf Minuten getrompetet, kamen drei Policemen und rissen ihn vom Stuhle herunter, da gesetzlich an Sonntagen kein Meeting (außer über religiöse Gegenstände) gehalten werden darf, Jones, an solche Unterbrechungen gewöhnt, wie Keiner, schien sich nichts daraus zu machen. Aber das Volk schrie: „Warum soll er nicht reden? Laßt ihn reden!“ (Speak out, Jone! Go on! – Go on! Go on!) schrie es lauter und lauter. Jones trat wieder auf den Stuhl und sprach, um jetzt von sechs Policemen herunter geworfen zu werden. Der inzwischen zu einer unabsehbaren Masse angeschwollene Menschenknäuel lös’te sich jetzt plötzlich, wie auf Commando, in 25–30 runde Gruppen über eine gute englische Meile weit auf mit je einem Redner in deren Mitte. Eben so schnell und ziemlich regelmäßig schwenkten sich etwa um vier Uhr diese einzelnen Gruppen nach beiden Seiten des Reit- und Wagencorso ab und bildeten Spaliere, um hier den aristokratischen Equipagen und Reitern wild und tobend zuzurufen: „Go tu church! Go tu church!“ (Geht in die Kirche!) Es folgten Mützenschwenkungen und unauslöschliches Gezische, so daß viele Pferde scheu wurden. Endlich machte ein ausgesucht schmutziger Haufe, jeder aus einer kurzen Thonpfeife den wohlfeilsten, stinkenden „Shag“ qualmend, seine Aufwartung, umringte die Equipage des Herzogs von Beaufort, der mit Familie darin saß, und blies ihm von allen Seiten den beizendsten Stänker in die aufgerissenen Kutschenfenster, so daß der Familie nichts Anderes übrig blieb, als auszusteigen.
Dieser „Ausräucherungs-Prozeß“ wurde an mehreren Stellen vorgenommen. Die bürgerlichen Wagen erhielten Vivats, alle mit gepuderten Dienern hinten wurden „geräuchert“ und sonst maltraitirt. Den ungeheuersten Jubel erregte ein alter schmieriger Fleischerkarren, dicht besetzt mit der ausgesuchtesten Elite von Lumpacivagabunden, die majestätisch ihren „Shag“ rauchend, die stürmischen Huldigungen des Volks mit herablassenden, gnädigen Verbeugungen nach beiden Seiten erwiederten. Eine derbe Satyre auf die Volksgunstbezeugungen gegen die Großen auf der Menschheit Höhen, ein schneidender Contrast gegen die Spießruthen fahrenden gräflichen, lordlichen und herzöglichen Equipagen.
Im Vergleich zum zweiten verlief der erste Sonntag dieser „unconstitionellen“ Demonstration ziemlich friedlich, da sich die Polizei blos rathgebend und wenigstens nicht mit ihren „Truncheons,“ den bleiangefüllten kurzen Stöcken, einmischte. Den Montag darauf nahm sehr bezeichnender Weise die ganze Presse für die Demonstration Partei, selbst die Times, die bisher dem Mob nie hold war. Im Vaterhause wurde Lord Grosvenor gefragt, ob er nicht lieber seine Sonntagsbill zurücknehmen wollte. Palmerston machte einen schnöden Witz, und der Vater der Bill erklärte, sie nicht zurücknehmen zu wollen, obgleich er schon am ersten Sonntage sehr unfeine Beweise der Volkserbitterung erfahren. Im Hyde-Park (mit Freund Lord Ebrington) von Volksmassen erkannt und umringt, wurde er gefragt, woher er sein Vermögen, woher er die goldenen Ringe an den Fingern genommen?
„Das Vermögen habe ich geerbt, die Ringe gekauft,“ antwortete er.
„Geraubt, gestohlen habt Ihr sie, Sir!“ schrie ihm Jemand zu und bewies ihm, daß die Normannen das Land erobert, geraubt und gewaltsam unter sich vertheilt, dann Gesetze gegeben, welche diesen Raub schützten und das Geld der Anglo-Sachsen in ihre Hände geleitet haben und noch fortwährend leiten. - Ueberhaupt trat das in Frankreich erst durch sich selbst, dann durch äußerliche Gewalt zusammen gefallene, hohle Gespenst des Communismus mit dem L. Blan’schen „Eigenthum ist Diebstahl,“ sehr mannigfaltig hervor. Es kann in England, wo die Bildung der untern Klassen so furchtbar vernachlässigt ward, und der Feudalismus der Macht und des Grundbesitzes noch besteht, gefährlich werden.
Lord Grey, der Minister des Innern, hatte zum zweiten Sonntage Befehl gegeben, die Demonstration niederzuhauen. Die Regierung und Lord Grosvenor waren entschlossen, die Sonntagsbill zu halten. - Wir wollen die Brutalitäten der Polizei nicht im Einzelnen aufzählen, die sie sich an diesem Tage zu Schulden kommen ließ. Sie wurde in den meisten Fällen auch arg behandelt und hatte ihre Instruktionen. Die Hauptschuld liegt in Lord Grey. Daß aber einzeln stehende, ganz unbeteiligte Personen höhern Standes und großen Reichthums von der Polizei mit ihren Bleiknütteln von hinten plötzlich niedergehauen, daß schon zerschlagene, am Boden liegende Personen noch mit Füßen getreten, daß Bleiknüttel-Attaken gegen Weiber und Kinder ausgeführt, daß selbst ein auf der Krim verwundeter Soldat zerschlagen, friedliche Leute selbst in Läden mißhandelt wurden – diese Heldenthaten der Polizei riefen einen allgemeinen Schrei der Entrüstung durch alle Stände, bis an’s Parlament hinauf, hervor.
Lord Grosvenor, der sich schon den Sonntag über hinter 200 Mann Polizei zurückgezogen hatte, zog endlich seine Bill zurück. Regierung und Parlament blamirten sich; um aber die Niederlage zu verstecken, weigerte sich Lord Grey, von zwei Parlamentsmitgliedern aufgefordert, eine Special-Untersuchung gegen die Polizei-Frevel einleiten zu lassen, diese ihm speciell mitgetheilten Frevel anzuerkennen und die Untersuchung zu verordnen. Dies steigerte die Erbitterung. Das Volk schlug Montags und Dienstags alle Fenster des Polizei-Gerichtslokales ein, in welchem die etwa 70 Gefangenen vom Sonntage durch Schuld der Regierung über die gesetzliche Zeit (24 Stunden bis zur Stellung vor dem Richter) aufgehalten worden waren. Obgleich Viele freigesprochen wurden und die Anderen mit zehn bis zwanzig Schillingen oder acht bis vierzehn Tagen Gefängniß davon kamen, steigerte sich doch die Erbitterung während der Woche auf’s Höchste. Sonnabend Abend, den 10. Juli, forderten Anschläge zur Rache, zur völligen Befreiung des Sonntags und zum Unabhängigkeitskampfe gegen „die Obersten Zehntausend“ auf. Dunkele Gerüchte sprachen von einem bewaffneten Zuge des Volks in den Hyde-Park, von Verstärkung aus Birmingham, Manchester u. s. w., von wo die Chartisten zu rechter Zeit eintreffen würden, um der Polizei zu zeigen, daß sie Diener des Volks und nicht Werkzeug der obersten Zehntausend sei, um einen englischen Sonntag erkämpfen zu helfen, wie ihn die Völker des Continents genössen. So sah man dem dritten Sonntag mit großer Aufregung und Spannung entgegen.
Der Minister des Innern hatte zwar in der elften Stunde (Freitags Nacht) seine Politik der Strenge und der Polizei wieder geändert und abermals „nachgegeben,“ indem er eine unparteiische und genaue Untersuchung und Bestrafung der Polizei-Grausamkeiten versprach, aber einerseits glaubte man ihm nicht und sagte: „Wer erst so sprach, wird nun auch alles Mögliche thun, um die Sache
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