Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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in England die Klasse ist, deren Erziehung ganz und gar als Null betrachtet werden kann, so darf man wohl sagen, daß Unwissenheit den Geisteskrankenen nicht gar zu günstig ist. Eine andere Tabelle zeigt uns ferner, daß wenigstens die Hälfte der Patienten dieser Klasse auf die eine oder andere Weise zum Besten der Anstalt beschäftigt sind.
Wir stiegen nun ohne uns weiter aufzuhalten, bis zum Flure der ersten Etage hinunter, und gelangten von hier vermittelst eines verdeckten und mit einer starken eisernen Thüre wohl verwahrten Ganges in ein anderes Seitengebäude nach hinten hinaus, wo sich die wahnsinnigen Verbrecher befinden, welche theilweise in dem Krankheitszustande ein Verbrechen begangen, oder während Abbüßung ihrer Strafe wahnsinnig geworden sind. Es befinden sich überhaupt 106 (84 männliche und 22 weibliche) Criminal-Patienten in der Anstalt, welche hier zusammen mehr als 708 Jahre, also durchschnittlich etwas mehr als 7 Jahre gelebt haben. Auffallend ist übrigens, daß sich unter ihnen 82 Individuen befinden, welche sich ein Verbrechen gegen die Person haben zu schulden kommen lassen. Auch befinden sich hier zwei politische Verbrecher, von denen der eine jener Laufbursche Oxford ist, welcher ein Pistol auf die Königin abfeuerte. Da ein Hauptzweck dieser Abtheilung darin besteht, die Patienten in sicherem Verwahrsam zu haben, so ist hier Alles gefängnißmäßig eingerichtet, und an jeder Thüre und in jedem Gange stehen riesige Wärter aufgepflanzt, welche sofort bei der Hand sind, sobald die Kranken einen Versuch machen sollten, sich der Haft zu entziehen, wofür sie ohne Ausnahme stets aufgelegt sein sollen. Abgesehen übrigens von der strengen Aufsicht und den eisernen Stäben vor den Fenstern, ist die Verpflegung und Behandlungsweise dieselbe, wie in den anderen Abtheilungen der Anstalt, und werden wenigstens zwei Drittel der Patienten im Hause und im Garten beschäftigt. Im zweiten Stocke befinden sich die Reconvalescenten dieser Station, unter denen sich auch ein Maler von nicht geringen Talenten befindet. Er hat jetzt ein mittelalterliches Stück aus der Zeit der Kreuzfahrer auf der Staffelei, worauf sich wenigstens hundert Figuren befinden, von denen einige mit solcher Gewandtheit und Kühnheit gezeichnet sind, daß sie keinem Künstler Schande machen würden.
Unten angelangt, kamen wir aus einer Seitenthüre, welche mit einem ungeheuern Schlüssel geöffnet wird, auf einen Hof hinaus, auf dem sich einige Bäume und ein verdeckter Gang befindet, unter dem die Patienten spazieren gehen können. Im Hintergrunde ist ein großer Gemüsegarten, der fast ausschließlich von den Irren selbst bearbeitet wird. In dem mittleren Flügel nach hinten hinaus, welcher zugleich die Scheidewand zwischen der Abtheilung für die männlichen und weiblichen Patienten bildet, ist die Kapelle (Betsaal), in der wöchentlich drei Mal Gottesdienst gehalten wird. In der Vorhalle des mittleren Portals sind die Apotheke, das Büreau, Wartezimmer und andere Lokalitäten der Administration und unten die Küche der Anstalt. Das Erste, was uns beim Eintritte in die Augen fiel, war eine äußerst elegante Dampfmaschine von fünf Pferdekräfte, welche die ganze Anstalt selbst bis in die höchsten Etagen hinauf mit dem erforderlichen warmen Wasser versorgt, dann aber auch zum Kochen verwendet wird; denn hier wie in allen großen Küchen in England kocht man mit heißen Wasserdämpfen, welche vielfache bedeutende Vortheile bieten soll. Einer besteht darin, daß die Küche selbst viel sauberer gehalten und bei geringeren Mitteln ein viel größeres Resultat erzielt werden kann. Der ganze Kochapparat und die Armee von eisernen Töpfen und Kasserolen sehen alle so rein und blitzend aus, als hätten sie soeben die Hände des Künstlers verlassen, der sie verfertigte. Mehr als ein Dutzend gewaltige Hammelskeulen oder riesige Rinderbraten, ein ganzer Sack voll Kartoffeln, verschiedene Gemüsearten und eine Masse anderer Speisen können alle zu einer und derselben Zeit gebraten, geschmort und gekocht werden. Auch kann man vermöge einiger Regulatoren die Hitze je nach dem Bedürfnisse entweder für das Ganze oder eine bestimmte Abtheilung bald stärker, bald schwächer machen. Zu unserer Rechten befindet sich unmittelbar unter dem Fenster ein langer, schneeweißer Tisch, auf dem die Vertheilung der Lebensmittel vor sich geht. Wir bemerken hier drei oder vier Männer mit gewaltigen Messern und wirklichen Heugabeln ritterlichst bewaffnet und die verschiedenen Portionen schneiden. Jeder hat eine ungeheure Hammelkeule (denn es giebt heute gerade Hammelbraten) und eine Waagschale vor sich, doch scheint die letztere fast überflüssig, denn während der ganzen Zeit, daß wir diesem interessanten Prozesse zusahen, kam es fast nicht ein einziges Mal vor, wo man nicht gleich mit dem ersten Schnitte die erforderliche Quantität abgeschnitten hätte. Andere Personen sind wiederum beschäftigt, die Gemüsearten zu verteilen, welche ebenfalls zugewogen werden, und verschiedene Aufwärter, größtentheils Patienten, schaffen dann die Speisen nach den verschiedenen Sälen und zwar werden die für die oberen Stockwerke vermittelst einer Maschine von der Küche unmittelbar hinauf befördert. Gleich am Eingange finden wir auch den Speisezettel und wir theilen ihn hier mit, um zu zeigen, daß die Patienten durchaus keine Noth zu leiden haben.
Zum Morgenbrote erhalten sie sämmtlich Thee und die Männer außerdem 14 und die Frauen 12 Loth Brot und Butter.
Mittagsessen: Sonntag: Gekochtes Pökelrindfleisch,
- Montag und Donnerstag: Hammelsbraten,
- Dienstag und Freitag: Pökelhammelfleisch,
- Mittwoch: Rinderbraten,
- Sonnabend: Fleischpastete
und zwar die Männer 1 Pfd. und die Frauen 28 Loth und außerdem erhalten Alle 8 Loth Brot und 2 Loth Käse. An den anderen Tagen erhalten sämmtliche Patienten neben dem resp. 12 oder 10 Loth Fleisch 8 Loth Brot; die Männer 3/4 Pfd., Frauen 1/8 Pfd. Gemüse, und endlich die Männer 1/2Quart und die Frauen 1/4 Quart Bier. Das Abenbrot ist wie das Morgenbrot, doch erhalten die Männer des Mittags und Sonnabends anstatt des Thee’s 1/2Quart Bier und 4 Loth Käse. Diejenigen Patienten, welche im Garten, in den Werkstätten oder in dem Waschhause beschäftigt sind, erhalten außerdem noch zum zweiten Frühstück 8 Loth Brot, 2 Loth Käse, 1 Loth Butter und 1/2 Quart Bier und des Nachmittags als Vesperbrot 1/4 Quart Bier. Die Weihnachtsmahlzeit besteht, wie überall in England, aus Roastbeef und Plumpudding. Am Neujahrstage Mincepies, am Charfreitage die berühmten Crossbuns. Zu Ostern und am Pfingstmomage Kalbsbraten und Speck.
Dieses sind die gewöhnlichen Gerichte, und ist bei ihrer Auswahl namentlich auch der englischen Sitte Rechnung getragen; zuweilen werden sie indessen auch nach Gutachten des Arztes durch Schweinebraten, Speck und Fisch ersetzt, und wir haben wohl kaum zu erwähnen nöthig, daß alle Speisen stets von der allerbesten Güte sind. Die bedeutenden Kosten der Verwaltung und Unterhaltung der Anstalt werden theils von den Einkünften früherer Vermächtnisse und Stiftungen, theils von den Patienten selbst bestritten. Die Regierung zahlt außerdem für die Criminal-Abtheilung einen jährlichen Zuschuß von etwa 30,000 Thalern, und allein für fünf Patienten dieser Art hat der Staat schon mehr als 45,000 Thaler an die Verwaltung der Anstalt gezahlt. Ja, das Verbrechen, abgesehen von der tiefen Bedeutung desselben in moralischer Beziehung ist stets außerordentlich theuer, und es läge deshalb schon im materiellen Interesse der Gesellschaft allen Ernstes daran zu gehen, um dasselbe, wenn nicht ganz auszurotten, doch wenigstens so selten als möglich zu machen. Doch kann dies nicht durch Polizeimaßregeln erzielt werden; dazu bedarf es der Schulmeister, eines neuen Erziehungssystems und weitgreifender socialer Reformen. Dies sind keine Chimären einer krankhaften Phantasie, welche sich nicht realisiren ließen, sondern es sind laute Forderungen der Civilisation und Humanität, und man lege nun ernstlich Hand an’s Werk und die glücklichen Resultate werden sich von selbst ergeben.
Hiermit haben wir unsere Wanderung eigentlich vollendet, denn der andere linke Flügel des Hauptgebäudes wird von den weiblichen Patienten bewohnt. Die Matrone oder Oberaufseherin, eine äußerst gebildete Dame, empfängt uns und führt uns durch diese Abtheilung der Anstalt, deren Einrichtungen sich fast in Nichts von denen unterscheidet, welche wir so eben weitläufiger beschrieben haben. Auch hier ist überall dieselbe Reinlichkeit, dieselbe weise Absonderung der Patienten, und in einigen Gängen fanden wir einige große Blumentöpfe mit den schönsten blühenden Blumen, welche von den Patienten mit einer wahren Ehrfurcht betrachtet zu werden schienen, und als meine Begleiterin einige davon abpflückte und sie den umstehenden Kranken gab, schienen sie wie die Kinder außer sich vor Freude. In einem Seitenflügel nach hinten hinaus führend, befinden sich die Arbeitszimmer, wo eine große Zahl von Patienten mit Nähen, Stricken und anderen weiblichen Arbeiten beschäftigt ist. Daß man übrigens tüchtig arbeitet, zeigt schon, daß man im Jahre 1853 im Ganzen 2714 verschiedene Stücke Arbeit
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 385. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_385.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)