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Seite:Die Gartenlaube (1855) 384.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.

(Schluß.)

Am äußersten Ende der langen Halle befindet sich eine weite Gitterthür, welche auf einen kleinen Hof führt, der rings von hohen Gebäuden mit Säulengängen umgeben ist. Hierher werden die schlimmsten Kranken der Anstalt gebracht, und wird es als eine Art Strafe für Ungehorsam betrachtet, hier eingesperrt zu werden. Daselbst mochten sich zur Zeit vielleicht zehn Patienten befinden, von denen einige ein Buch vor das Gesicht hielten, als ob sie läsen, dabei marschirten sie aber in vollem Sturmschritt auf und nieder. Einer dieser Abtheilung bildet sich ein, Lord Byron zu sein, und in der That, wenn man durch Nachahmung seines Anzuges und äußerer Manieren ein Byron sein könnte, so wäre ihm dies auf das Vollständigste gelungen; denn „wie er räuspert und wie er spuckt, hat er ihm glücklich abgeguckt“, und da der große Barde bekanntlich schlecht zu Fuße war, so bildet sich der Unglückliche ein, lahm zu sein.

Wir gingen von hier in die lange Halle zurück und gelangten durch einen offenen Eingang in einen Seitenflügel, wo sich ein Billard befand, auf dem gerade einige Patienten spielten, und wir haben in unserm ganzen Leben keine bessern Doublés, angesagte Quadroublés und feine Schnitte gesehen als hier.

In einem andern Zimmer befindet sich eine Bibliothek, zur freien Verfügung der Patienten. Wir nahmen einige Bücher von ihren Ständen. Die Mehrzahl derselben sind religiösen Inhalts. Doch befinden sich da ebenfalls die englischen Classiker von Shakespeare bis auf Moore und Charles Dickens; eine reiche Auswahl von Reisebeschreibungen und Geschichtswerken, von englischen Novellen und anderen literarischen Erzeugnissen; aber am Meisten wird die illustrirte „London News“ und „Punch“ verlangt, von denen mehrere Exemplare vorhanden sind. Hinter dem Bibliothekzimmer befinden sich noch einige Werkstätten, wo mehrere Patienten als Schneider, Schuhmacher, Tapezierer, Fußdeckenmacher, Tischler u. s. w. beschäftigt sind. Es dürfte nicht unangemessen sein, hier die Erfahrung des Dr. Hood beizufügen, welcher auf das Ausdrücklichste erklärt, daß man mit Bezug auf die moralische Leitung des Geisteskranken nicht Gewicht genug auf diejenigen Beschäftigungen und Erholungen legen kann, welche darauf berechnet sind, den Geist von seinen Illusionen abzulenken und die gesunde Uebung der reflektirenden Thätigkeiten zu kräftigen.

„Im Allgemeinen“ sagt er, „wird man finden, daß Wahnsinnige sehr zur Trägheit geneigt sind. Einige mögen zwar nachtheilig unruhig sein, doch unterliegt die Mehrzahl den kranken Gefühlen und sind durchaus nicht aufgelegt, sich irgendwie mit Ausdauer zu beschäftigen. Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß jede Art von Beschäftigung eine heilende Tendenz hat, und es ist daher wünschenswerth, daß jeder Patient alle mögliche Ermunterung dazu erhalten sollte. Jede Art von Erholung ist nur ein anderer Ausdruck für geistige Beschäftigung und erheitert, wenn weise geleitet, die Stimmung des Gemüthes und erzeugt einen gesunden Ton der Gefühle. Aus diesen Gründen bekamen im Laufe des Jahres einige Patienten der Anstalt die Erlaubniß, unter Aufsicht von Aufsehern in die Stadt zu gehen, welches stets als eine besondere Vergünstigung betrachtet wurde und die beste Wirkung hatte. Vier männliche Patienten bekamen sogar die Erlaubniß, unter einer sorgfältigen Aufsicht nach einander die Nationalgallerien, die Ausstellung in Sydenham, Greenwich, Kew Gardens zu besuchen, und sogar einige Wasserexcursionen zu machen, und ich kann ohne das geringste Bedenken versichern, daß diese Ausflüge den allergünstigsten Einfluß auf ihren Gesundheitszustand ausgeübt haben.“

Auf Grund dieser Erfahrungen hat man in einigen Anstalten dieser Art sogar große Festlichkeiten veranstaltet, an denen die Verwandten und die angesehensten Personen der Nachbarschaft Theil nahmen. Man hat die Mahlzeit mit Gesellschaftsspielen und einem großartigen Balle beschlossen, und alle Versuche dieser Art haben stets den allerbesten Erfolg gehabt.

Im zweiten Stockwerke des Gebäudes befinden sich die heilbaren Kranken. Die Einrichtung der Lokalität ist dieselbe, wie im ersten Stocke. In der Mitte ist gleichfalls die lange Halle, in der sich ein großer Bauer mit allerlei zwitschernden Vögeln befindet; zu beiden Seiten sind dann die Schlafzimmer, Speisesäle, Lesezimmer, Wasch- und Badesäle und bieten durchaus nichts Besonderes dar. Die Dauer in dieser heilbaren Station ist auf ein Jahr beschränkt, und kann nur nach Ablauf dieser Frist nach Gutachten des Arztes auf drei oder vier Monate ausgedehnt werden. Die leitende Idee dieser Bestimmung ist, der Anstalt so viel als möglich den Charakter einer Heilanstalt zu geben, und sie einer möglichst großen Anzahl von Unglücklichen zu öffnen. Die Erfahrung hat überdies gelehrt, daß die meisten Fälle in dieser Frist geheilt werden, und daß die Hoffnungen auf eine Genesung nach Ablauf dieser Zeit schwächer und schwächer werden.

Die Patienten sind, je nach dem Charakter ihrer verschiedenen Krankheiten von einander streng abgeschieden; so sind es z. B. die Unruhigen von den Ruhigen, die Reinlichen von den Schmutzigen, die Melancholischen von den Tobenden u. s. w. Ein junger Mann in dieser Abtheilung, von einer sehr bedeutender Bildung, leidet unter der fixen Idee, daß er wahnsinnig sei. Sobald er mich zu sehen bekam, kam er eiligst auf mich zu und fragte mich in einem ziemlich imperatorischen Tone: „Kennen Sie mich?“ und da ich diese Frage verneinte, so fügte er eiligst hinzu: „Nun gut, dann wissen Sie auch nicht, daß ich wahnsinnig bin – ja, ja! – ich hin wahnsinnig, völlig toll.“ Ich suchte ihn zu beruhigen, indem ich sagte, daß er nicht wahnsinnig, sondern ganz vernünftig sei, doch das schien ihn nur noch mehr aufzuregen, denn er sagte: „Das ist es gerade, was mich ärgert, daß mich alle Welt, selbst der Doctor zum Besten haben und mir was weiß machen will; aber das soll ihnen nicht gelingen, ich weiß es besser, daß ich verrückt bin, da fehlt’s mir, da, da!“ (Bei diesen letzten Worten zeigte er auf die Stirn.) Ich habe keine Vorstellung, wohin unsere gelehrten Philosophen diesen Fall placiren würden; denn die interessante Frage, welche von ihnen entschieden werden müßte, ist die, ob ein Mann, der ein klares Bewußtsein seines Zustandes hat und dessen Krankheit nur eben in diesem Bewußtsein besteht – als wahnsinnig zu betrachten ist.

Am äußersten Ende dieser Halle befindet sich eines jener wattirten Zimmer, welche ein Substitut für den körperlichen Zwang bilden. Das Gemach selbst ist ein hohes, schwach erleuchtetes Gewölbe, welches vollständig stark wattirt oder gepolstert ist, selbst Fußboden und Decke. Der Ueberzug ist ein äußerst starkes Fabrikat aus Gummi und so zähe, daß man es mit den bloßen Händen nicht zu zerreißen im Stande ist. Patienten, welche sich nun in einem rasenden Zustande befinden, und sich gar nicht anders bändigen lassen, werden dann in dies Zimmer gebracht, nachdem sie ein warmes Bad und beruhigende Medicamente erhalten haben. Doch nimmt man nur in den alleräußersten Fällen seine Zuflucht dazu, und hat man ein eignes Buch, in dem man jeden einzelnen Fall dieser Art aufzeichnet und eine genaue Krankheitsgeschichte des Patienten giebt. In dem Zimmer ist kein Mobiliar, mit Ausnahme einer Art Sopha, welches als Bett dient und in derselben Weise, wie das ganze Gemach überpolstert ist.

Von hier führt wiederum eine breite, steinerne Treppe hinauf zur dritten Etage, wo sich die unheilbaren, im Ganzen 75, Patienten befinden. Man muß sich übrigens diese unglücklichen Wesen durchaus nicht als gefährlich vorstellen, sondern die meisten halb schlafend oder in eine tiefe melancholische Träumerei versunken, und mein Führer versicherte mich, daß gerade diese Station die allerwenigsten Umstände verursache. – Auch scheint dieser Zustand der physischen Existenz im Allgemeinen durchaus nicht nachtheilig zu sein; denn die größere Mehrzahl ist recht wohl genährt und ein Alter, der bald seinen 75sten Geburtstag feiert, ist bereits fünfzig Jahre in der Anstalt. Die 75 unheilbaren Patienten (38 männliche und 37 weibliche) waren bis zu Ende des vergangenen Jahres zusammen gerade 700 Jahre, das macht für Jeden durchschnittlich 9 Jahre und 4 Monate in der Anstalt. Eine andere auffallende Erscheinung in den statistischen Nachrichten ist die verhältnißmäßig große Anzahl wohlerzogener Personen, welche sich in dieser Abtheilung befindet. Denn während 28 Patienten eine gute oder sogar eine außerordentliche Erziehung genossen haben, fanden wir in der gegebenen Liste nur zwei männliche Patienten, welche ohne alle Erziehung sind. Wenn wir nun bedenken, wie ungeheuer groß

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 384. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_384.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)