Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
|
eine ungeheuere moralische Gewalt über seine Patienten, welche viel bedeutender ist als die physische Gewalt.
Zu beiden Seiten dieser langen Halle befinden sich links und rechts gewölbte Zimmer, in denen die Patienten schlafen. Jedes Gemach enthält gewöhnlich zwei eiserne Bettstellen, auf denen eine weiche Roßhaarmatratze und die erforderlichen wollenen Decken und leinenen Betttücher liegen. Alles ist äußerst sauber und wohlgehalten. Außerdem befinden sich in den Zimmern noch ein oder zwei Stühle und in einigen sogar eine Waschtoilette; übrigens sind die Fenster weder hier noch in einem andern Theile der Anstalt mit Ausnahme der Criminalabtheilung mit eisernen Gittern versehen. Ich machte meinen Führer darauf aufmerksam, und er sagte mir, daß eine vieljährige Erfahrung ihn gelehrt hätte, daß Geisteskranke äußerst selten das in sie gesetzte Zutrauen mißbrauchten, und es würden im ganzen Jahre nicht zehn Scheiben muthwillig zerbrochen, und es sei völlig unerhört, daß die Utensilien oder Möbel verletzt würden. Dr. Hood scheint diese Bemerkung in allen Punkten zu bestätigen; denn er sagt in seinem letzten Berichte: „Wenn es uns gelingt, einem Patienten zum klaren Bewußtsein zu bringen, daß wir ihm Zutrauen schenken; wenn wir im Stande sind, ihm begreiflich zu machen, von wie großer Bedeutung es ist, sein Ehrenwort zu halten, so haben wir seinen geistigen Zustand bedeutend verbessert; denn die Wiederbelebung der Selbstachtung ist gewöhnlich das erste untrügliche Zeichen einer Genesung.“
Die Patienten tragen übrigens keine gleichmäßigen Uniformen, sondern ihre eigenen Civilkleider, und das scheint mir in der Behandlung der Kranken von großer Bedeutung zu sein, indem sie nicht jeden Augenblick an die Schrecklichkeit ihrer Lage erinnert werden. Außer den Schlafgemächern befinden sich hier noch und zwar fast in der Mitte des Flügels zwei Speisesäle, in denen wenigstens 50 Personen mit der größten Bequemlichkeit gespeist werden können. Man bedient sich guten englischen Porzellans, und mein Führer versicherte mir, daß ein Patient selten sein Tischzeug muthwilligerweise beschädige oder zerbreche. Die Messer sind sehr dick, ohne Spitze und nur gerade scharf genug, um mit Mühe das Fleisch zu zerschneiden. Unter den Patienten dieser Abtheilung befindet sich einer, dessen Abenteuer hier vor nicht gar langer Zeit bedeutendes Aufsehen erregt haben, und welche er selbst jetzt verfaßt hat, um sie der Oeffentlichkeit zu übergeben. Da er hörte, daß ich etwas über die Anstalt schreiben wollte, so händigte er mir ein sorgfältig geschriebenes Exemplar seines letzten Abenteuers ein, und ich halte es für interessant genug, es hier einschalten zu dürfen.
„Nun Jedermann, wer mich nur ein Wenig kennt, – und wer sollte nicht Kapitain B. kennen – weiß auch, daß ich von jeher ein gutes Herz und eine offene Hand zum Geben hatte; doch geriethen meine Verhältnisse dabei bald in einen solch’ schrecklichen Zustand von Gichtbrüchigkeit, daß ich ernstlich über das beste Mittel nachzudenken begann, mich meiner äußerst peniblen Position zwischen den Händen der Wucherer und anderer Manichäer zu entziehen, welche mich wie mein Schatten überall hin verfolgten. Ich war entschlossen, einen Coup d’état irgend einer Art zu versuchen; Nichts schien mir zu verzweifelt, wenn es nur die Möglichkeit zeigte, mich zu retten. Da schien mir auf einmal das Schicksal die schönste Gelegenheit zu bieten. Und auf mein Ehrenwort, eine gar glorreiche Sache würde es für mich gewesen sein, wäre ich glücklich genug gewesen, die reiche Emilie Kleinknochen (Emilie hatte, nebenbei bemerkt, die größten Knochen, welche ich je gesehen habe) mit Leib und – Vermögen – zu gewinnen. Und die Lady war ebenfalls ungeheuer süß mit mir, und ich würde sie auch sicherlich geheirathet haben, und heute ein Obrist in der Expeditions-Armee sein, anstatt als halbpensionirter Kapitain zu verschimmeln, wenn ich nicht von meinem Vater – ein ächter Irländer – eine zu große Vorliebe für Whiskey geerbt hätte. Das – Wetter – hole ihn. Amen.
„Meine Emilie, wie ich sie zu nennen pflegte, hatte bereits, ich weiß nicht, seit wie vielen Decennien den Meridian des Lebens passirt und trotz ihrer großen Knochen, etwas schielenden Augen und einem Schnurrbarte, für den mancher junge Offizier ohne Bedenken seinen kleinen Finger gegeben haben würde, war sie noch passabel genug, doch besaß sie, und das war ja die Hauptsache, im vollen Uebermaße, dessen ich bedurfte, um eine ungeheuere Bresche in meinen Finanzen auszufüllen, und so faßte ich – vielleicht das funfzigste Mal in meinem Leben – den kühnen Entschluß, mein Junggesellenleben aufzugeben und den heiligen Stand der Ehe zu versuchen. Um die Wahrheit zu sagen, es machte mir durchaus keine Schwierigkeit, ihr Jawort zu erhalten. Meine Emilie wurde nicht im Geringsten verlegen oder schamroth, als sie meine Liebesbetheuerung anhörte und meine Hand annahm, und ich sah in der That aus ihrem Gesichte niemals die Farbe der Scham prangen, mit Ausnahme einer hochröthlichblauen Flamme auf der Nasenspitze, welches, wie sie mir wiederholentlich erklärte, von einer schlechten Verdauung herrühren sollte – aber meiner Meinung nach ein brillanter Katalog von Spirituosen zu sein schien.
„Doch möge dem sein, wie ihm wolle, ich würde dem theueren Wesen niemals seinen Tropfen beneidet haben, hätte es das Geschick gewollt, daß sie meinen Namen – und einen äußerst respektablen obendrein – zu führen bekommen hätte. Doch „mit den himmlischen Mächten ist kein ewiger Bund zu flechten,“ meine Emilie ist jetzt die Frau eines kleinherzigen Spießbürgers, der ihr jeden Tropfen beneidet, der die Sorgen dieser Welt vergessen macht, und der sie noch obendrein mit seinem „guten Rathe“ zu Tode langweilt.
„Ich muß jedoch einige Zeit zurückkehren und will nur kurz bemerken, daß nach der gewöhnlichen Anzahl von pro forma Visiten und affectirten Ceremonien, kleinen Geschenken und großen Schwüren ewiger Treue und derlei Unsinn mehr meine Hand angenommen, und alle Vorbereitungen für das glückliche Ereigniß getroffen wurden. Niemals hatte in dieser Welt ein Dragonerkapitain auf halbem Solde freundlichere Handwerker, als ich auf einmal bekommen hatte. Schuster, Schneider, Pferdehändler, Sattler, Kutschenbauer, Büchsenmacher, Goldschmiede und unzählige andere überhäuften mich völlig mit ihren Waaren, und alle ohne Ausnahme hatten meine Rechnung auszuziehen vergessen, „das werde sich schon später finden,“ hieß es. Ja, mein Juwelier übersandte mir nicht nur verschiedene Goldsachen zum Betrage von 500 Pfund Sterling, sondern hatte außerdem noch eine Banknote von 100 Pfund beigefügt, welche Summe man mir für drei Monate ohne Zinsen vorschießen wollte, und man bat so dringend und schien so uninteressirt zu sein, daß ich in der That nicht das Herz hatte, die Bitte abzuweisen. Aber ich darf sagen, daß er und alle anderen Professionisten jetzt von Herzen wünschen, daß sie damals weniger dringend oder ich hartherziger gewesen sein möchte. Ich brauche wohl kaum zu bemerken, daß ich über meine herrlichen Aussichten außer mir vor Freude war und daß ich alle Nächte bis den hellen Morgen im Kreise vergnügter Freunde meiner Schönen einen Trinkspruch nach dem andern brachte. Ich wünschte, ich hätte es nie gethan; denn dies hat gerade alle meine schönen Hoffnungen und Schlösser in Spanien zerstört.
„Das ceremonielle Liebeln war, wie bereits gesagt, alles abgemacht und der Tag unserer Vermählung für die nächste Woche festgesetzt. Näherinnen arbeiteten sich fast zu Tode, um das Brautkleid zur rechten Zeit fertig zu haben. Da kam mir ein altes Versprechen in’s Gedächtniß, welches ich früher einem meiner Cameraden gegeben hatte, daß, wenn ich mich je zu der Fatalität eines ehelichen Lebens entschließen sollte – keiner als er mein Brautdiener sein sollte. Dies kam mir gerade in den Kopf, als ich nach einer durchschwärmten Nacht an meinem Schreibpulte saß, um meiner Heißgeliebten einige Zeilen zu schreiben, denn ich pflegte ihr alle Morgen einen Brief zu schicken, obwohl ich sie fast eben so bald sah, als sie denselben durchgelesen hatte. Ich schrieb daher die folgenden beiden Briefe:
„Theuerster Carl!
„Drei Mal Hurrah! Gratulire mir – ich habe eine Amazone gezäumt und gesattelt. Sie ist zwar äußerst großknochig und so häßlich als die verrufene „Urgroßmutter“ mit Zehn multiplicirt; aber was schadet das? Sie ist ein Crösus, sie hat ganze Wagenladungen – baaria. – Ich glaube, sie trinkt scharf und ich bin fest überzeugt, daß sie Teufelsmucken hat, aber Du weißt, daß sie ihrem Ehemanne zu lieben, ehren und zu gehorchen geloben muß. Mit Bezug auf Liebe und Ehre soll sie völlig freies Spiel haben, sollte sie es indessen jemals an dem erforderlichen Gehorsam fehlen lassen, so werde ich die Zügel äußerst straff anzuziehen wissen. Du weißt, alter Junge, unsere Verabredung. Nun gut, die schreckliche Calamität wird am kommenden Donnerstag stattfinden; so finde Dich denn, als ein braver Junge, in vollem Wichse hierselbst um 8 Uhr Morgens ein. Warte nur bis ich die Alte erst gehörig gefesselt habe und dann: „Vivat victoria!“ Geld wie Heu! Vergiß nicht – Donnerstag um 8 Uhr pünktlich, Soldatenzeit.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_370.jpg&oldid=- (Version vom 21.6.2023)