Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Ein Besuch im Bethlem-Hospital in London.
Schon der bloße Name „Bethlem or Bedlam“ ist hinreichend, unserer Gemüthsstimmung einen dunkleren Schlagschatten zu geben, so heiter und sonnig sie auch immer sein mag. Der Anblick einer jeden Krankheit in ihrem bösartigsten Charakter ist zwar im Stande, uns für einen Augenblick tief zu erschüttern, doch ist dieses Gefühl stets vorübergehend; die Geisteskrankheiten machen dagegen auf den Besucher immer einen bleibenden Eindruck, welcher sich nur in einem längeren Verlaufe der Zeit einigermaßen verwischen läßt. Der Wahnsinn zeigt uns so recht die ungeheuere Größe des geregelten Geistes, indem er uns das schreckliche Bild der geistigen Anarchie vor die Augen führt; denn die geistigen Fähigkeiten als solche sind in den meisten Fällen nicht zerstört, ja zuweilen sogar bedeutend erhöht; sondern es ist nur das Band der Harmonie zwischen den verschiedenen Impulsen, durch welches sie mit dem Bewußtsein verknüpft sind, auf die eine oder andere Art zerrissen, und deshalb hat der Wille seine leitende Macht verloren. Der Geisteskranke giebt uns daher entweder das Bild eines Fahrzeuges, welches auf offener See von einer völligen Windstille überrascht wird oder das zwischen gefährlichen Klippen auf sturmbewegtem Meere das Steuerruder verloren hat und von der gewaltigen Brandung bald hierhin bald dorthin geschleudert wird, um, wie es scheint, im nächsten Augenblicke gegen die Felsen zerschmettert zu werden. Und es ist namentlich diese Ungeregeltheit oder besser – diese völlige Hülflosigkeit – denn Wahnsinn kann auch Methode haben – in der sich der Kranke befindet, welche uns so gewaltig angraut und so tief ergreift.
Bethlem bietet außer diesem allgemeinen Interesse, daß es eines der großartigsten, ältesten und bestgeführten Hospitäler dieser Art ist, noch den speciellen Reiz einer romantischen Vergangenheit; denn wenn man den Gerüchten, welche sich in allerwelts Munde befinden, Glauben schenken darf, so wurde es früher häufig gemißbraucht, um sich unangenehmer Gegner für immer zu entledigen. Und wer unter solchen Umständen einmal diese Anstalt betreten hatte, für den gab es in der Regel keinen Ausgang; er war wie der bekannte Mann mit der eisernen Maske lebendig todt. Er fristete hier zwar sein armseliges Dasein fort, aber er war wie völlig begraben und für alle öffentlichen Acte des Lebens wie gestorben. Wenn es wahr ist – wie uns die Dichter versichern – daß die Steine Ohren haben, möchten doch dann die Wälle von Bethlem auch sprechen können. Welch’ eine Geschichte von Unglück, welch’ ein Bild menschlicher Schwächen und Verworfenheit würde uns enthüllt werden. Wir würden – oder wir müßten uns außerordentlich täuschen – die Mysterien der großen Vornehmen und vornehmen Großen erhalten, welche Alles das, welches wir jetzt unter diesem Titel über die niedrigeren Klassen der Gesellschaft besitzen, weit hinter sich lassen würden.
Der Fremde, welcher von dem Westende Parliamentarystreet hinaufgeht, wo sich die stolzen Gebäude der Admiralität, der Horsegarde, Whitehall mit den berühmten Frescogemälden; die Ministerialgebäude; die mit Recht berühmte Westminster-Abtei mit dem Poetenwinkel und den königlichen Gräbern; Westminsterhall mit seinen historischen Erinnerungen; das an architektonischem Schmuck überreiche neue Parliamentsgebäude befinden und dann von Westminsterbrücke auf die andere Seite der breiten Themse hinüberblickt, erkennt bald in der Mitte der dunklen Rauchwolke, welche durch tausend hohe Schornsteine der mächtigen Fabrikgebäude gebildet wird, und die sich wie ein schwerer Nebel über ein niedriges Thal über dem ganzen Stadttheil lagert – ein großes Gebäude mit einem erhabenen Dome hervorragen. Schon der unsichere Anblick aus der trüben Ferne läßt verrathen, daß es ein großartiges öffentliches Institut irgend einer Art ist. Dies ist Bethlemhospital oder das öffentliche londoner Irrenhaus. Sobald wir näher gekommen sind, finden wir, daß das Gebäude selbst ein höchst nobles Aeußere hat und durchaus nicht den Charakter eines Gefängnisses an sich trägt; denn man bemerkt auch nicht eine einzige eiserne Stange vor den tausend erhabenen Fenstern, sondern alle sind unvergittert und spiegelklar. Die Hauptfront des Instituts ist über 700 Fuß lang und besteht aus zwei Flügeln und einem Centrum, auf dem sich der hohe Dom befindet, den man schon aus weiter Ferne bemerkt. Die anderen vierstöckigen Lokalitäten sind für die Wohnungen des Beamtenpersonales und die Patienten bestimmt, und zwar der rechte Flügel für die männlichen und der linke für die weiblichen. Außerdem hat das Hauptgebäude noch drei Seitenflügel nach hinten hinaus, wodurch zwei geräumige Höfe gebildet werden, die jedoch nach der Seite hin, welche dem Hauptgebäude gegenübersteht und an den Gemüsegarten grenzt, offen sind. Der Grundriß der Anstalt bildet demnach die Form eines liegenden gothischen E . Die Anstalt, deren Einrichtung beinahe eine Million Thaler gekostet hat, kann bequem 500 Patienten placiren, doch ist diese Anzahl äußerst selten erreicht, und befindet sich in der Mitte eines geräumigen Platzes, welcher ungefähr vierzehn englische Morgen enthält.
Als wir an einem Dienstage etwa gegen 11 Uhr vor dem Haupteingange erschienen, der sich unmittelbar an der großen Straße, dem Centrum des Gebäudes gegenüber, befindet, öffnete der Pförtner[WS 1], welcher nahe am Eingange ein sehr niedliches Häuschen bewohnt, die verschlossene Thür und ersuchte mich, meinen Namen in das Fremdenbuch zu schreiben. Ich that es und befand mich nun in dem Bereiche der Anstalt selbst. Vor mir lag das Gebäude in seiner ganzen Ausdehnung, und in Front desselben eine Art Park, von dem der linke und rechte Flügel mit üppigen Gebüschen und schattigen Bäumen bepflanzt sind, zwischen denen sich die mit weißem Sand und Kies bestreuten Fußsteige anmuthig hindurchwinden. Der Theil indessen, welcher dem Centrum gegenüber liegt und in dem wir uns befinden, ist ganz eben und mit einem dichten, wohlgeschnittenen grünen Rasen bedeckt, über den zwei Fußsteige etwas aufsteigend zum Haupteingange des Gebäudes selbst hinaufleiten. Der Eingang ist im griechischem Style gebaut, sehr geräumig und wird durch acht schöne korinthische Säulen gebildet, zwischen denen eine breite Stiege von Marmor von ungefähr acht oder zehn Tritten in das Innere des Gebäudes selbst führt. Zunächst gelangen wir in eine sehr geräumige Vorhalle, in der sich die beiden berühmten[WS 2] Figuren von Cibber befinden, welche den rasenden und melancholischen Wahnsinn darstellen, und die früher auf dem Eingangsthore standen, als sich das Hospital selbst noch in Moorfields befand. Beide Figuren haben eine gelagerte Position und erfüllen die Seele des Beschauers mit wahrem Grauen. Sie sind unsers Erachtens als Kunstwerke sehr bedeutend und verdienen allein schon einen Besuch der Anstalt; doch können wir uns nicht länger bei ihnen aufhalten; denn der Portier, dem wir unseren Wunsch, den Hauptarzt der Anstalt zu sprechen, mitgetheilt haben, heißt uns in ein geräumiges Empfangszimmer eintreten, dessen Fenster nach hinten hinausgehen, und dessen Wände mit mehreren großen Grundrissen und architektonischen Plänen der Anstalt geschmückt sind. Außer mir befinden sich hier noch zwei Personen, von denen der eine einen unglücklichen Bruder, der andere einen geisteskranken Sohn besuchen will.
Ich knüpfte mit dem älteren Herrn eine Unterhaltung an, und er theilte mir auf mein Befragen über die Krankheit seines Sohnes die folgende Geschichte mit.
„Ich selbst bin ein Farbenhändler im Westend und obwohl ich es sehr gern gesehen, daß mein Sohn mein Geschäft erlernt hätte, und obgleich ich ihm häufig darüber gütige Vorstellungen zu machen pflegte, so konnte ich ihn doch nie dazu bewegen.
„Ich will kein „Ladendiener“ werden,“ pflegte er dann wohl auszurufen, „und nach aller Welts-Pfeife tanzen und rennen. Ich will studiren, will berühmt werden und mir eine anständige, wenn nicht glänzende Position in der Gesellschaft erringen.“
„Seine Mutter fühlte sich durch derlei Aeußerungen geschmeichelt, und anstatt seinem unzeitigen Ehrgeize einen Zügel anzulegen, bestärkte sie ihn nur noch und ich selbst mußte allen ihren Wünschen nachgeben, um nicht vor ihnen als ein kaltherziger, egoistischer Spießbürger zu erscheinen. Und so gab ich nach einigem Zögern meine Einwilligung, ihm eine sogenannte höhere Bildung zu geben, d. h. ich sparte und kargte Alles zusammen, um eine hohe Pension in einer „anständigen“ Schule für junge Gentlemen zu bezahlen und ihn stets in neuer Kleidung zu erhalten. Er schien auch alle
Anmerkungen (Wikisource)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 359. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_359.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)