Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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der Höhe heruntergeschickt, so daß bald der ganze oberste Rücken des Berges mit wüthenden Scharmützlern gefüllt war. Die russischen Malakoff- und Redan-Batterien waren von dem lebhaftesten Feuer der englischen zum Schweigen und die ganze Vertheidigungs-Maschinerie offenbar in Confusion gebracht worden, da man einen solchen Sturm nicht bei Tage erwartet haben mochte. Die Russen flohen alle in der Richtung des Malakoffthurmes, so daß die ganze Mamelonhöhe ohne irgend einen ernstlichen Kampf durch bloßes Hinaufklettern erobert zu sein schien. Mit diesem leichten Siege nicht zufrieden, ließen sich die Franzosen ohne Commando, blos von dem Feuer des Krieges, vom Instinkte hinter den fliehenden Russen hertreiben, als wenn alle plötzlich einstimmig beschlossen hätten, nun sofort auch den Hauptschlüssel zu Sebastopol, den Malakoff, zu nehmen. So stürmten sie leidenschaftlich hinunter in das Thal, das wie ein umgekehrter Sattel sich zwischen Mamelon und Malakoff streckt, und gerade hinauf gegen die Schanzen des entgegengesetzten Hügels. Unter Kanonen-, Flinten- und Steinregen drängten die Franzosen immer vorwärts, bis sie schon unter der niedrigsten Schußlinie der Kanonen waren, so daß sie nur noch von dem Stein- und Musketenregen litten. Aber sie litten mehr, als sie vertragen konnten, da sie in ihrer plötzlich ungemein gering erscheinenden Anzahl durch keine Nachfolger unterstützt wurden. Diese waren nämlich zurückcommandirt worden, so daß diese Kühnsten auf ihrem Rückwege unter einem russischen Flankenfeuer größtentheils fielen. Ebenso und fast gleichzeitig wurden die Engländer, nachdem sie ihre eigentliche Aufgabe, eine Steinschanze zu nehmen, gelöst hatten, zurückgerufen und beinahe zur Hälfte niedergemacht. Auch sie hatten sich von der Aufregung des Sieges hinreißen lassen, einen Angriff auf die mächtige Redan-Redoute zu machen, wodurch die Russen offenbar in höchste Confusion geriethen, so daß jetzt die Benutzung des ersten Sieges recht an der Zeit war. Von der Weisheit Raglan’s zurückgerufen, gaben sie den Russen Muth und Gelegenheit, ihre Kraft wieder zu sammeln und damit von je tausend Retirirenden 5 bis 600 niederzumähen.
Die Kämpfe, die nun auf und um den Mamelon folgten, waren Schlächtereien gewöhnlicher Art, wie sie eben im Kriege immer vorkommen. Als die Sonne am folgenden Morgen auf diese Höhen, zwischen die Thäler und Schanzen schien, leuchtete sie in viele Tausende verzerrter, starrer Leichengesichter, von denen unter je Hundert 80 bis 90 der Bescheidenheit ihrer Commandeurs zum Opfer gefallen waren, der Bescheidenheit, welche den Russen vom 7. bis zum 18. Juni Zeit ließ, sich auf den Sturm gegen den Malakoffthurm vorzubereiten und Mittel und Minen zu graben, durch welche es ihnen leicht ward, die letzte Blüthe der Armeen theils hundert- und aber hundertweise niederzuschmettern, theils bataillonsweise in die Luft zu sprengen. Der 18. Juni 1855 wird einmal in dieser schauderhaften Kriegsgeschichte blutigroth stehen bleiben, ein entsetzliches Gegenstück zu dem 18. Juni vor vierzig Jahren. Die vierzigjährige Renommisterei „Waterloo“ wird eine ewige Schande „Malakoff“. Tausende und aber Tausende waren während des Winters greiser Schwäche und vornehmer Unwissenheit zum Opfer gefallen, Tausende wurden jetzt an einem Tage vernichtet, weil die Sieger am Siebenten umkehren mußten, wie die Gerlach’sche Wissenschaft, um dem Feinde Zeit zu lassen, den 18. Waterloo-Juni ebenfalls umzukehren. Ein Augenzeuge des ganzen bisherigen Krim-Schwindels sagt und beweist, daß wenn Feldherren den Sieg an der Alma sofort benutzt hätten, statt mit dem glorreichen Zuge um Sebastopol herum zu renommiren, Sebastopol damals gefallen wäre, und wenn Feldherren fähig gewesen wären, den Mamelonsieg sofort zu benutzen, wie man Eisen schmiedet, weil es glüht, der Malakoffthurm am 8. die Fahne der Sieger getragen haben würde. Bis zum 18. hatte er gehörige Muße, sich auf den Anblick des schmachvollsten Schlachtfeldes, der großartigsten Feindesvernichtung vorzubereiten.
Kenner behaupten, daß dieser Schwäche, diesem Zaudern, diesem Verschleudern großartiger Sieges-Conjuncturen nicht blos Alters- und Aristokratie-Unfähigkeit zu Grunde liege, sondern ein Geheimniß, das erst spätere Geschichtsschreiber[WS 1] gehörig in’s Licht setzen würden. – –
Und nun sende ich Ihnen zum Schluß die Ansicht einer Stadt, die vor wenigen Tagen noch glückliche und zufriedene Menschen hinter seinen[WS 2] Mauern barg, und jetzt durch die „westlichen Träger der Civilisation“ zu einem[WS 3] Aschenhaufen verbrannt, nur noch auf der Landkarte und im Gedächtniß der daraus Vertriebenen existirt. Das Sengen und Brennen, das Zerstören wehrloser Städte bis zum Salzbestreuen der eingeäscherten Stätten friedlicher Bürger scheint ein Hauptparagraph in dem unmenschlichen Gesetzbuche der heutigen Civilisation zu werden.
Am Abhange eines Hügels im Norden des langen Golfs, welchen die Mündungen des Don in das asow’sche Meer gerissen haben, sieht, nein sah Taganrog freundlich auf das blaue Wasser herab. Die Stadt ist bekannt als Hauptausfuhrort für diesen Theil Rußlands, und spielt jetzt nach der Expedition der Alliirten in das asow’sche Meer und gegen die Stadt selbst eine nicht unbedeutende Rolle unter den Kriegsereignissen. Sie ward 1706 von Peter dem Großen gegründet und zwar für spätere militairische Zwecke. Zugleich sah er die mercantile Wichtigkeit dieser Lage und machte sie deshalb, nach Petersburg, seiner Hauptschöpfung, zum Gegenstande besonderer Fürsorge. Eigenhändig pflanzte er dort einen Eichenwald, der sich jetzt schon bedeutend in grünen Baumkronen entwickelt hat. Bekanntlich starb hier auch Alexander im Jahre 1826. Die Stadt war als Werk der Regierung schön gebaut, rein und staatlich. Die großen, weißen Häuser glänzten in der Sonne, zwischen grünen Gärten und trotzigen Festungswerken. Um die Stadt giebt es hübsche ländliche Scenerie mit Wiesen und Heerden. Die Bevölkerung, auf 22,000 Einwohner geschätzt, war ein buntes, malerisches Gemisch von Russen, Tartaren, Armeniern, Kosaken, Deutschen und einigen Franzosen. Die Deutschen lebten hier als Aerzte, Kaufleute und Künstler in großer Achtung. Die Ausfuhr bestand im Frieden besonders in Kaviar, Leder, Talg, Korn, Wolle und einem großen Theile der Produkte Sibiriens, die auf dem Don herunter kommen. Freilich ist der Hafen sehr seicht und durch die Anschwemmungen des Don immer seichter geworden. Alle größern Schiffe müssen deshalb bis drei deutsche Meilen vom Ufer ankern und ihre Güter mühsam in kleineren Booten laden und löschen. Der bedeutend zunehmende Ausfuhrhandel und diese Unbequemlichkeit dazu veranlaßte die Regierung, in Kertsch ein Zollhaus und die Quarantainestation für das asow’sche Meer zu gründen. So theilte sich der Handelsverkehr zwischen beiden Städten. Im Jahre 1853 bekam Taganrog den commerciellen Todesstoß. Die Regierung erklärte nämlich Kertsch zur einzigen Quarantainestation für das asow’sche Meer, so daß Taganrog nicht nur für Schiffe, sondern auch für Küstenfahrzeuge geschlossen ward. Kertsch sollte groß und stark werden. Die Alliirten ließen ihm freilich bei all ihrer Langsamkeit nicht Zeit genug dazu. Taganrog lebte seitdem nur vom Transport der Munition und Lebensmittel für die Truppen im Kaukasus und später auch für die Krim-Truppen. Da Rußland nun durch den Sieg der Alliirten seine Lebensadern für diesen ganzen Theil des Reiches und zwar bis Sibirien hinauf abgeschnitten findet, erscheint die jetzige Situation allerdings ernstlicher zum Frieden zu nöthigen, als früher. Ob der Friede sich aber nicht noch mehr nöthigen lassen wird, eh’ er kommt, bleibt noch dahin gestellt.
Schließlich bemerken wir nur noch, daß sich aus den Massen der schauderhaften Schlacht- und Schlächterscenen um Mammelon und Malakoff herum nach allen bisher eingegangenen öffentlichen und Privatmittheilungen keine finden, die dem blos menschlichen und nicht strategischen oder taktischen Leser ein wirklich tragisches Interesse bieten. Es ist nur das Schrecklichste der Schrecken – „der Mensch in seinem Wahn“, in dem Wahne, als könnte durch die Einnahme Sebastopols oder auch die ganze Eroberung der Krim der Friede erkauft werden. Nehmen wir auch an, sie hätten endlich die ganze Krim, so haben sie immer noch keine Macht über das Rußland, das einst diese Krim eroberte, wohl aber eine Last auf ihrem Halse, die sie erst recht darnieder hält, so daß sie in den Fall kommen können, flehende Friedenstauben nach Petersburg zu schicken, mit der Bitte, man möge ihnen endlich die Last wieder abnehmen. Rußland, das durch die strenge Blokade seiner Küsten in Gefahr schwebt, in seinem Fette zu ersticken, und doch auch wieder Mangel am Nothwendigsten leidet, Rußland mit seinem Czaar an der Spitze, würde eher nach der asiatischen Steppe zurückweichen, als den sogenannten Vertretern der Civilisation einen Finger, viel weniger die Hand zum Frieden zu bieten.
Anmerkungen (Wikisource)
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_358.jpg&oldid=- (Version vom 20.6.2023)