Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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standen die Primärwahlen unter der Leitung der beiden großen Parteihäupter selbst; jetzt existiren bekanntlich große wohlorganisirte Banden ehrloser Subjekte, die ihre Dienste jedem Candidaten, jeder Partei an den Meistbietenden verkaufen. Wenn eine demokratische Magistratsperson des einen Stadtbezirks seine Wiederwahl sichern will, wendet sie sich an eine whiggistische Magistratsperson eines andern Bezirks, der ihr seine Rotte unter der Bedingung leiht, daß ihr der Demokrat für seine Wiederwahl seine Rotte leihe. So werden beide wieder gewählt. Die ehrlichen Bürger, die nach Ueberzeugung stimmen wollen, müssen Gott danken, wenn sie überhaupt an den Wahlkasten herangelassen werden. Doch man hindert sie in der Regel nicht besonders, denn auch die größte Stimmenmehrheit der Unabhängigen hat nichts zu sagen. Die Wahlinspectoren stecken dann ganz offen ein paar Hände voll Stimmzettel in den Kasten, um sich die Majorität zu schaffen, oder verzählen sich oder werfen die Zettel ihrer Gegner in’s Feuer. Wo diese Mittel bedenklich erscheinen, müssen Helfershelfer ein Dutzendmal jeder unter beliebigen Namen stimmen oder man schleppt „Grüne“ herbei (nicht Wahlberechtigte) und giebt ihnen ein paar Cents für die Mühe, die ihnen zugesteckten Zettel in den Stimmkasten zu werfen. In manchen Wahlbezirken ist’s sogar schon lebensgefährlich, nicht „nach Vorschrift“ zu stimmen, weshalb die gekauften Rowdies und deren gekaufte Helfershelfer ausschließlich die politische Freiheitsbühne beherrschen, da sich alle anständigen Bürger von jeder Betheiligung an den Wahlen fernhalten. „Sauger“ und „Schläger“ machen ein Gewerbe daraus, in Verbindung mit angeworbenen Fremdenlegionen die Comitee’s in der gewünschten, bezahlten Weise zusammenzusetzen, was ihnen fast ohne Ausnahme gelingt. Sie verkaufen nicht nur ihre Stimmen den Meistbietenden, sondern auch oft an andere, minder hohe Bieter zugleich. Außerdem ist es eine bekannte Thatsache, daß die Nominations-Comitee’s (welche die „regulären“ Candidaten ernennen) eben so käufliche Artikel sind, als Vieh und Negersclaven, nur mit dem Unterschiede, daß diese nur einmal verkauft werden, während jene Wahl-Unholde sich im Handumkehren so oft verkaufen, als sie Narren zum Betrügen oder Stellenjäger finden, die sie bezahlen.
„Es läßt sich denken, was für Gesindel unter diesen Umständen an’s Staats- und Stadtruder kommen, z. B. ein bankerotter Branntweinverkäufer, der sich als Vater des Stadtviertels „five points,“ der Verworfenheitshöhle von New-York 80,000 Thaler baares Geld machte und dafür eine – Staatssenatorstelle kaufte. Der Theilnehmer eines Mordes und als solcher eine Zeit lang flüchtig, ist Mitglied des Gemeinderaths. Der Stadtverordneten-Candidat Holmes ermordete am Tage vor seiner Wahl einen Policeman. Von den vier Bürgermeister-Candidaten erwies sich einer, Fernando Wood, als sechsfach gerichtlich bestrafter Fälscher und Betrüger. Ein Herr Barker, Candidat der Know-nothings, ergab sich als derselbe, der sein Schnittwaarengeschäft, nachdem er es zum dreifachen Werthe versichert, abgebrannt hatte. Erst neulich kam es im Congreß wieder zur Sprache, daß Staatsbeamte, wenn sie ihre „auf Zeit“ erschwindelten Aemter verlassen, ihre Rechenschaftsbücher und auch den baaren Vorrath von Kasse mitzunehmen pflegen. „Die Bücher sind ihr Privateigenthum,“ sagen sie, in denen allein Rechenschaft über die mitgenommenen Gelder zu finden wäre. Thatsachen der Art ließen sich in’s Unendliche häufen. Sie reichen hin, um zu der Annahme zu berechtigen, daß irgend ein energischer, als despotischer Retter aus dieser „Freiheit“ auftretender Charakter von allen „anständigen“ Bewohnern als Heiland begrüßt werden, und so die absolute Staatsform auf einmal wie über Nacht fix und fertig erscheinen würde. Die Stimmung ist ganz danach, die ganze staatliche und sociale Maschinerie arbeitet darauf hin.
„Ich mache besonders auf ein interessantes Zeichen dieser Art aufmerksam. In Amerika finden die englischen Lordsstammbaumbücher Tausende von Käufern, und jede amerikanische Familie, die eine Verwandtschaft zehntausendsten Grades mit einer solchen Familie des „Stammlandes“ ausfindig machen kann oder auch nur im guten Glauben eine solche Verwandtschaft annimmt, lässt auf jede Seite der Kutschenthür ein großes Wappen anmalen und zwei reichbetreßte Diener hinten stehen. Jeden Tag kann man von 11 Uhr Vormittags an in Broadway Hunderte solcher Equipagen fahren und vor Conditoreien und Frühstückssälen halten sehen, in denen die Damen der guten Gesellschaft Zuflucht gegen Langeweile suchen, bis der Geld machende Mann und Vater und Gesellschaft nach Hause kommt. Diese furchtbar und lächerlich ausgebildeten aristokratischen Gelüste nähren sich nicht von republikanischen Tugenden. Sie gedeihen nur als Trabanten und Monde königlicher Sonnenpracht. Die Know-nothings sind wesentlich aristokratischen Schlages. Sie wollen eine breite Aristokratie der Eingebornen gegen die spätern Einwanderer überhaupt staatlich und social etablirt und mit Privilegien ausgestattet wissen. Nur beiläufig erwähne ich die Sympathien aller „guten“ Yankees für Rußland und die entschiedene Russenfreundschaft des New-York Herald, der Times Amerika’s, ebenso die Eifersüchtelei und Kleinstaaterei der einzelnen Staaten gegen einander, die gern demokratisch unabhängig sein möchten mit einem Staatsoberhaupte für sich. Die Hauptsache ist und bleibt und vergrößert sich: die immer unerträglicher werdende Wirthschaft der bis in’s Tiefste, Breiteste und Frechste corrumpirten republikanischen Beamten und Formen. Jeder Anständige, jeder Freie verabscheut diese Karikatur der Freiheit und steht einer „starken Regierung,“ einer Freiheit aufhebenden Gewalt aus Freiheitsliebe als einer Wohlthat entgegen.
„Wie der europäische Absolutismus als Wohlthat, als Fortschritt aus dem Faustrechte hervorging, wird die Freiheit der Fäuste und des Geldes darin auch in Amerika zu diesem Ergebnisse führen, obwohl wir annehmen, daß die allgemeine Bildung und Rührigkeit der Amerikaner, d. h. einer neuen Mischung von Europäern, Asiaten und Afrikanern auf neuem, zur Freiheit aufforderndem Boden ein Absolutismus der Freiheit, statt der Knechtschaft werden mag. Tyrannei und Despoten für die Freiheit haben wir mehrere in der Geschichte. In Amerika wird sich vielleicht der größte Held der Art als Heiland bewähren.
„Ich bin im „regierenden“ Viertel New-Yorks , den „five points“ (fünf Punkten) den „seven Dials“ (sieben Straßenecken) Londons entsprechend, gewesen. Jede große Stadt hat ihre Augiasställe des Auswurfs, der Armuth und des Verbrechens, aber diese five points haben etwas für sich: das Gefühl und Bewußtsein, daß sie herrschen und die Republik begraben. Armuth und Verbrecher sind hier stolz und frech. Sie wissen, daß sie als Rowdies oder Gehülfen derselben Fabrikanten der Obrigkeit sind. Arbeitslöhne stehen ungemein hoch, 40 bis 90 Silbergroschen täglich für bloße Handarbeit und grobe Handlangerei. Dienstboten, Tagelöhner, Handwerker, Mechaniker werden bis nach Californien hinüber über viele Tausende von Meilen stets gesucht und jeder Gefundene mit Gold aufgewogen. Die „Fünfpunkter“ sehen mit stolzer Verachtung aus ihren Schmutzhöhlen und Lumpen auf diese Noth der Industrie und des Ackerbaues herab: sie leben vom „allgemeinen Wahlrecht“ und in den Zwischenpausen von allerlei aristokratischen Passionen und Prokliken, von ihrem Witz und der Flasche. Ihr Witz ist praktisch und bewährt sich in allerlei Gaunerei, Diebstahl und organisirter Gewaltthat. Sie bestehen aus allen Nationen, haben aber alle eine besondere Bruderliebe für Einwanderer, denen sie zum Theil entgegenfahren, um sie gleich auf dem Schiffe so fest zu umarmen, daß sie nicht eher wieder loskommen, bis der letzte Groschen heraus ist. In diesem großartigen Betrugs- und Ausplünderungssystem ist Methode und Organisation. Im Durchschnitt kommen täglich tausend Einwanderer in New-York an (1853 über 370,000), diese müssen gegen 10,000 Bewohner der „fünf Punkte“ und eine Menge „solide“ Leute außerdem ernähren. Die Hudson- und Erie-Kanal- und eine Menge Eisenbahn-Compagnien bezahlen Tausende von Rowdies zum Einfangen von Einwanderern, die dann natürlich nicht nur das ausgelegte Geld ersetzen, sondern auch die Compagnien ernähren müssen. Unabsehbare Massen von Grog-Kneipen, Bier- und Logirhäusern, Kellern und Läden drängen sich in engen Gassen um die Bollwerke, auf denen die Einwanderer in einem unabsehbaren Gewirre von Kindern, Kisten, Kasten, Tonnen, Schiffen, Booten und Kähnen, von deutschen, irländischen, englischen, schottischen, französischen und amerikanischen Brüdern aussteigen. Verwirrt und blaß mit ellenlangen Bärten, beladen mit Kindern und Karren und unendlichen Massen Gepäck suchen die deutschen Bauern vergebens festen Fuß zu fassen. Drei- und vierfach werden sie gepackt und hin- und hergezerrt, daß sie dahin, dorthin sich wenden, mit dem Schiffe, dem Dampfboote, der Eisenbahn fahren und zunächst hier, nein da, dort logiren sollen. Wohin er sich auch wendet, von allen Seiten lauert schamloses Raubgesindel auf seine lebenslang mühsam zusammengescharrten und Jahre lang in Strümpfen und Töpfen versteckt gehaltenen Thaler.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 343. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_343.jpg&oldid=- (Version vom 15.6.2023)