Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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ungeheure weiße Rauchsäule wie ein gigantischer Ballon. Es folgte ein dumpfes Gekrach: ein Magazin war in die Luft gesprengt worden. Kurz darauf dasselbe Phänomen; einige Minuten später zitterte das Schiff unter unsern Füßen, das Meer bedeckte sich mit zitternden Wellen, die Erde bebte, ein unbeschreibliches, dumpfes Krachen wälzte sich durch die Luft: ein Pulvermagazin war in die Wolken geschleudert! Nicht lange darauf wiederholte sich dieses donnernde Krachen dreimal auf einmal, ein dreifaches Donnern in einem großen Athemzuge: drei Magazine in die Luft geschleudert! – Später steigen hier und da Flammen mit schwarzen Rauchwolken auf, hier auf dem Lande, dort auf dem Meere. Häuser und Dörfer und Magazine und Schiffe brannten. Letztere wälzten sich rathlos und gleichsam von zweifachem Tode, dem Ertrinken und dem Feuer, schmerzhaft gequält, lange umher, bis sie halb sinkend, halb vom Feuer vernichtet allmälig mit ihren Flammen versanken. Und als nun der bleiche Mond am klaren Himmel aufstieg und bald zwischen schwarzem Rauche heller, bald über aufflackernden Flammen bleicher, bald hinter neuen und sich die ganze Nacht hindurch wiederholenden Explosionen ganz unsichtbar zu werden schien, aber doch immer ruhig blieb, ohne sich um diese furchtbaren Feuerwerke der Zerstörung zu bekümmern, kam uns das Gefühl, daß wir eine Kriegsscene erlebten und spielten, wie sie in der Geschichte wohl niemals so großartig, so unblutig und doch so gewaltig in ihrer Erscheinung, so wichtig in ihren Folgen vorgekommen sein mag.“ (Jedenfalls ist dadurch den Russen ihre Hauptlebensmittelquelle abgeschnitten und das Ministerium Palmerston, das schon im vollständigen Falle war, noch auf eine neue Frist gerettet worden.) „Wir landeten, wie die meisten Truppen, zwischen einem Salzsee und den Klippen von Ambulaki, einem Dorfe zwischen zwei vollständig verlassenen Batterien (Kamiesch- und Pavlovska- oder Pauls-Batterie), von wo aus die Hauptarmee ohne Widerstand in Kertsch eingedrungen war. Kertsch ist das alte Panticapäum, von dessen griechischen Alterthümern eine gute Sammlung im britischen Museum sich befindet, besonders interessant wegen eines alten, vollständig erhaltenen Stuhlbeines, dem thatsächlichen Beweise, daß die Griechen die Vergoldung gut verstanden und ihre andern Kunstwerke (Statuen) auch vergoldet haben mögen.“
„Wir bivouakirten die erste Nacht auf dem Hügel von Ambulaki, das, wie alle umliegenden, zerstreuten Hütten und Höfe, ganz menschenleer war. Nur später zeigten sich einige zurückgebliebene tartarische Familien, die um Schutz baten, der ihnen auch zugesichert ward. Das Land sieht hier wunderschön aus. Der üppigste blühende Rasen steigt von duftigen Hügeln dicht bis an das Meer herunter und spiegelt schwere Blumen in dessen Wellen. Etwa 200 Yards vom Meere steigt das Land bis zu 100 Fuß. An diesem Saume hin, am Meere entlang verzetteln sich unabsehbar einzelne Gehöfte und Ackerwirthschaften noch ganz nach demselben Schnitt, wie sie Virgil vor 2000 Jahren besang. Die muntern Franzosen waren uns hier überall zuvorgekommen und hatten die verlassenen Häuser weit und breit durchplündert, obwohl sie größtentheils nur alte Schuhe und Kleidungsstücke, saures Schwarzbrot und stinkendes Oel zwischen den nackten, weißen Wänden in dumpfer, stinkender Atmosphäre fanden. Das Vieh war weggetrieben, die Meubles zerstört worden. Nur Enten und Gänse wurden von den Franzosen noch in ziemlicher Menge gefangen und gebunden unter fürchterlichem Gegacker und Gekreisch weggeführt und zum Theil an englische Soldaten verkauft. Auch ein Schwein hatte man aufgetrieben. Es wurde als Communaleigenthum gleich von allen Seiten mit so viel Säbeln, als heran kommen konnten, zerhackt und so brüderlich getheilt.“
Und wie sieht diese plötzlich Haupt der Tagesgeschichte gewordene, bis vor vierzehn Tagen kaum dem Namen nach bekannte Stadt aus? Merkwürdig genug. Ehe die Alliirten kamen und die Russen selbst die größten Schönheiten und Schätze der Stadt in die Luft sprengten, war sie eine der modernsten architektonischen Schönheiten Rußlands, mit circa 12,000 Einwohner, befohlen und geschaffen durch einen strengen, gradlinigen Ukas des vorigen Kaisers. Sie streckt sich an der nördlichen Küste der geraden, durchgehenden, schön gepflasterten Hauptstraße und einem erhabenen „Bürgersteige“ in der Mitte. Sie wird in rechten Winkeln von andern schönen Straßen durchschnitten und mündet in ein Polygon, Viereck, aus, um welches eine Arcade läuft, welche den Marktplatz einschließt. Die Häuser glänzen alle in militärischer Ordnung mit ihrem weißen Kalkstein, wie Odessa. Der Marktplatz nimmt den alten türkischen Bazar ein und die Stadt selbst den Platz des alten Panticapäum, der Hauptstadt des einst gewaltigen Pontusreiches, das über ganz Kleinasien herrschte, und unter Mithridates VII. die er oberte Römerweltherrschaft fünfzig Jahre lang (121 bis 64 vor Christi Geburt) auf das Blutigste und Wüthendste bekämpfte. Vom Marktplatze führt eine gigantische Treppe auf einen Felsen, wo die Hauptkirche steht. Der Bauplatz dazu wurde in den Felsen gehauen, der noch heute Mithridates-Berg heißt. Hier zeigt man noch ein Grabmal, welches die irdischen Ueberreste der einstigen „Geißel Roms“ enthalten soll. Ein roh ausgehauener Sitz auf der Spitze des Felsens wird als der Lieblingsplatz bezeichnet, von wo Mithridates seine ungeheueren Flotten dem cimmerischen Bosporus (dem asow’schen Meere), damals der Schrecken des „civilisirten Westens“, überwacht und dirigirt haben soll. Die jetzige Kirche ist ein imposantes Bauwerk im griechischen Style, doch soll die Treppe hinauf mit ihren gigantischen Vasen und Greifen, dem Symbole des Mithridates, noch viel schöner und neben dem „Museum“ die größte Merkwürdigkeit sein. Ueber das Museum, eine reiche Sammlung von Antiquitäten aus den zahlreichen Grabhügeln umher, die noch jetzt in großer Menge die Höhen der Halbinsel schmücken, erwarten wir bestimmtere Berichte. Die Sammlung im britischen Museum ist aus diesem angekauft worden. Weiter in’s Land hinein giebt es oft meilenlange unabsehbare Steppen mit Höhenzügen, deren traurige Eintönigkeit nur durch zahlreiche Ausrufungszeichen der alten mithridatischen und späteren tartarischen Herrlichkeit, durch regelmäßige, viereckige Grabeshügel und Todtensäulen unterbrochen wird.
Schilderungen des Landes und der Stadt und der Gegenden des asow’schen Meeres wird es bald in Hülle und Fülle geben. Wir beschränken uns hier nur noch auf ein Bild des Marktlebens in Kertsch, wie es ein Augenzeuge aus der Zeit vor dem Kriege gab: „Zwanzig verschiedene Racen ellbogen und stoßen sich hier auf dem Markte, Russen, Tartaren, Nogaïten, Juden, türkische Matrosen, Genueser, Ragusaner, Kosaken, Kalmücken, Griechen, deutsche Kornmäkler von Odessa, Armenier u. s. w., alle agitirt und getrieben von mercantiler Gewinnsucht. Nach den Geschäften rumpeln sie davon in die Ebenen hinunter auf Wagen, die jeder eine Geschichte des Volks sind, die Russen in „Teleka’s“, die Tartaren auf ihren Karren, die auf großen, rohen Holzscheiben, statt der Räder, von trägen Ochsen davongezogen werden, die Nogaïten in ihren „Modgyars“, geflochtenen Körben auf Rädern, Andere reitend auf Kameelen, Andere auf Pferden, Andere auf den Wogen und in elenden Booten und Schiffen.
„Während der Markttage ist Alles Fülle und buntes Leben. Im Uebrigen hält sich die Stadt ruhig und reinlich, kämpft viel gegen Elemente und Witterungswechsel und ist für feindliche Angriffe leicht zugänglich.“
Als Hafen ist Kertsch, obgleich mit einer langen Reihe von Steinbollwerk, ziemlich unbedeutend. Die immer mehr zurücktretenden Gewässer der Meerenge von Yenikale machen es tiefer gehenden Schiffen ganz unmöglich, heranzukommen. Völlige Unbekanntschaft mit den verschiedenen Tiefen hatte die merkwürdige Expedition der Alliirten (obgleich sie längst wußten, daß der Weg nach Sebastopol wesentlich über Kertsch führte) so lange verzögert. Die Art, wie man zu der nöthigen Kenntniß kam, ist merkwürdig. Ein englischer Seeoffizier nahm ein russisches Schiff, auf welchem sich eine Privatequipage des Gouverneurs von Kertsch befand. Er schickte höflich eine Botschaft an denselben, daß er ihm sein Privateigentum nicht vorenthalten möchte und es ihm zur Verfügung stünde. Das Anerbieten ward angenommen, und so liefen die Boote des englischen Schiffes mit der Equipage in den Hafen von Kertsch ein und peilten und sondirten das Wasser unterwegs sorgfältig. So fand man, daß es einen Weg für kleinere Dampfschiffe bis ganz nahe an die Küste gäbe. Diese Entdeckung führte zu der merkwürdigen Expedition, an welche die Russen durchaus nicht gedacht zu haben scheinen, so daß sie im panischen Schrecken überall landeinwärts flohen und sich nur Zeit nahmen, alle die ungeheuern Lebensmittelvorräthe, Magazine und Gebäude, die dem Feinde Vortheil gewähren könnten, durch Brand und Explosionen zu vernichten, eine Art Moskau-Patriotismus. Wir können uns wohl kaum denken, wie die Stadt nun aussehen mag und werden deshalb wohl gut thun, dem merkwürdigen Platze, der Garantie der Alliirten für die Herrschaft über das asow’sche Meer und vielleicht auch über die Krim, später einen neuen Besuch abzustatten.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 328. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_328.jpg&oldid=- (Version vom 13.6.2023)