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Seite:Die Gartenlaube (1855) 327.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

an ihm gerächt. Nimmt er’s wohl gar mit Gewalt, können kaum die Richter ihre Entrüstung unterdrücken und das Publikum ruft Bravo zu seiner Verurtheilung. Nimmt er nun gar einen ganzen Sack voll Korn, steckt er wohl gar eine volle Scheune in Brand, sprengt er wohl gar sein eigenes Kornmagazin in die Luft, so sträuben sich unsere Haare über solche Verwahrlosung der menschlichen Natur. Stellen sich aber nun dergleichen moralische und rechtliche Verirrungen ganz im Großen und durch das Teleskop des Krieges dar, so zucken die Telegraphen aller Welt entzückt unerhörte Großthaten der Glorie und des Ruhmes in die Ministerial-, Zeitungs- und Börsenlokale, und die Völker der Erde lesen, horchen und sprechen begeistert von einem Siege des Rechtes, der Ehre u. s. w., je nachdem die Nachrichten lauten.

Nehmen wir z. B. die Großthaten von Kertsch und im asow’schen Meere.

Die Engländer und Franzosen verbrannten und versengten so und so viel hunderttausend Wispel[WS 1] Getreide und so und so viel Dutzend Schiffe der Russen. Die Russen selbst sprengten ihre vollen Vorrathsmagazine in die Luft, verbrannten Häuser und vernichteten so und so viel von ihren eigenen Schiffen. Wir wissen zwar genau, weshalb man sich vereinigte, um diese großartigen Werke der Zerstörung zu vollbringen, wegen der noch nicht geordneten „vier Punkte“ nämlich; aber warum hört hier nun aller Maßstab des Rechtes und Gesetzes auf? Warum geben sich die Gesetzgeber unter einander nicht solche Gesetze, die wirklich halten und gehalten werden? Wenn Schulze gegen Müller privatim nicht Krieg führen darf, sondern der Angreifende zum Justizcommissarius gehen muß, warum durften England gegen Frankreich, Frankreich gegen Deutschland, Rußland gegen den Westen, der Westen gegen den Osten u. s. w. Krieg führen? Kein Schulze und kein Müller dürfen in irgend einem dieser Länder in Streitigkeiten um eine Grenze sich gegenseitig beschießen und die Scheunen und Ställe in die Luft sprengen, damit der, welcher am Meisten ruinirt hat, endlich Recht bekomme. Warum gilt aber diese „alte Gerechigkeit“ gerade unter den Rechtshütern und Gesetzgebern nicht? Sie haben sich allerdings für alle mögliche Fälle Gesetze gegeben und gegen jede Verletzung „Verträge“ geschlossen. Warum halten sie dieselben nicht? Gewaltsame Empörung gegen geltende Gesetze tritt, wenn in Masse vorgenommen, allemal als Revolution auf. In Revolutionen von Unterthanen ist jeder Patriot verpflichtet, sich niederwerfen zu helfen. Jeder Krieg ist aber, da Gesetze und Verträge dadurch gewaltsam und im Großen verletzt werden, wesentlich Revolution. Warum geben die größten Feinde aller Revolutionen so schlechtes Beispiel?

Seltsame, naive, gemüthliche Fragen und Raisonnements. Ja wohl. Aber in einem „gemüthliche Familienblatte“ konnten wir unmöglich ohne Weiteres an die versenkten, verbrannten, in die Luft gesprengten Schiffe und Getreidevorräthe von Kertsch und des asow’schen Meeres herantreten, ohne uns unterwegs erst etwas zu wundern über diese merkwürdigen Versuche, die sogenannten „vier Punkte“ durch gegenseitige Beförderung von Hungerkur annehmbar, verdaulich und wohl gar appetitlich zu machen. Und nun können wir den erweiterten, neuen Kriegsschauplatz zunächst auch nur als ein aufgetragenes Gericht der Geographie genießen. Wie sieht er aus? Wie groß ist er? Was hat er für Handel und Gewerbe, für die Kultur-Interessen, für die Kriegsentscheidung, für Rußland, für die Alliirten zu bedeuten? Zur Beantwortung dieser Fragen gehört vor allen Dingen eine Karte, die wir unsern geehrten Lesern später bieten werden. Das asow’sche Meer ist die Vorhalle des schwarzen für Rußland, das erst während der letzten 70 Jahre Schritt für Schritt sich bis an’s schwarze Meer und ganz und gar um das asow’sche herum ausgedehnt hat. Vor hundert Jahren noch fielen die russischen Grenzen weit jenseits Cherson, die Krim und das asow’sche Meer. Dieses hat als Vorhalle zu dem schwarzen und als große Verkehrsstraße für die umliegenden, äußerst getreidereichen Ufer eine große Wichtigkeit nicht nur für den Unterhalt der Truppen auf der Krim, sondern auch für alle kornausführenden Häfen des schwarzen Meeres.

Die unzähligen Getreideschiffe, welche bis zu dem Kriege und selbst bis zum 24. Mai dieses Jahres den bis dahin völlig unbekannten Rücken des asow’schen Meeres bedeckten, wirkten wohlthätig auf die Größe unserer Viergroschenbrote. Die große Theuerung des Brotes durch ganz Europa und zwar nach einer gesegneten Ernte (in England bis über das Doppelte der Preise von 1851) ist hauptsächlich der abgeschnittenen Zufuhr vom schwarzen und asow’schen Meere zuzuschreiben. Die Engländer, welche sofort nach ihrem blutlosen Siege mehr als zweihundert russische Schiffe, größtentheils kleinere Getreideschiffe, theils zerstörten, theils nahmen, werden die Folgen dieses Sieges noch lange beim Bäcker bezahlen müssen und wir auch. Der ausgeführte Ueberfluß an Getreide von den Ebenen und Steppen und Flußufern am asow’schen Meere war während der letzten zehn Jahre um Hunderttausende von Wispeln gestiegen. Besonders reich waren die Zufuhren am Don, Bug, Boristhenes und etwa dreizehn andern Flüssen herunter, deren Namen wir noch nicht einmal alle kennen, wie denn überhaupt alle die ungeheuren Steppen und Thäler, die sich um das asow’sche Meer herum dehnen und strecken (zum Theil bis China) zu den unbekanntesten der Erde gehören. Wir haben nur allgemeine Bilder davon. Gegen das Meer hin und an den Flußufern Ackerbau und Viehzucht als Eigenthum großer adeliger Grundbesitzer, weiterhin einsame Kosakendörfer zwischen ungeheuern Steppen, durch welche der Pferdehirt einsam reitet, einsam, oft Monate und Jahre lang, nur zuweilen gegen Wölfe jagend.

Zwischen den Flüssen Sal und Manitsch (die sich in den Don ergießen) treiben sich noch ganz nomadisch ohne feste Wohnorte kleinäugige, breitknochige Kalmücken umher, die während jedes Winters, wie die Zugvögel, weithin nach südlicheren Gegenden wandern. Am Manitschflusse finden wir deutsche Ansiedler und mancherlei Kultur. Davon bei einer spätern Gelegenheit. Die bevölkertste und kultivirteste Strecke am asow’schen Meere zieht sich von Taganrog (wo der Kaiser Alexander starb) nach dem Don und daran hinauf, wo zunächst die Städte Asow, Nakhitschevan und Tscherkask als Getreidesammler für Ausfuhr wichtig geworden sind. Im Ganzen erscheinen die Ufer des asow’schen Meeres eben, öde und traurig. Das Wasser selbst ist träge und gilt für sehr ungesund, da Sümpfe und stagnirende Landseen ihre giftigen Dünste von allen Seiten hierher führen. Als besonders gefährlich gilt das Klima auf der Halbinsel Kertsch, dem großen östlichen Flügel der Krim, dessen Spitze jetzt die siegreichen Alliirten einnehmen.

Cobden hat bereits auf Grund der Aussagen eines asow’schen Kaufmannes den Siegern einen furchtbaren Tod durch wegzehrende Fieber prophezeiht. Zwar ist das „faule Meer“ ziemlich fern, aber den Quartieren der Sieger dicht gegenüber, wälzt sich das feuchte, heiße, labyrinthische Ungeheuer der Halbinsel Taman im Schlamme und Sande vom Kaukasus herunter bis dicht vor Yenikale, so daß zwischen der Sandbank und dem andern Ufer nur eine sehr enge Straße für Schiffe in’s asow’sche Meer bleibt.

Von der merkwürdigen Eroberung des asow’schen Meeres, der Hauptquelle für den Proviant der russischen Krim-Armee, haben wir schon mancherlei Berichte von Augenzeugen. Wir geben auf Grund derselben ein Bild davon. Die Expedition bestand aus 10,000 Franzosen, 5000 Türken und 3500 Engländern, wornach die englischen Blätter sehr wenig Berechtigung zu dem majestätischen „Wir“ haben. Die Schöpfer und Armee der Expedition waren Franzosen. Wenn’s nach den Engländern gegangen wäre, würde man die Furcht vor den 40 in der Straße von Kertsch versenkten Schiffen fortgesetzt haben, obgleich sie längst von Grundeis und Strömung weggeschwemmt worden waren. Die ganze Macht belief sich auf zwölf große Linienkriegsschiffe, 50 Fregatten und eine Menge kleinere Fahrzeuge und Kanonenboote unter dem Haupt-Commando des französischen Admirals Bruat, der englischen Abtheilung unter Sir E. Lyons. Am 24. Mai, dem Geburtstage der Königin von England, den Lord Raglan vor Sebastopol durch doppelte Portionen Fleisch für sich und die Armee feierte, von 1 Uhr Mittags an zogen sich die Schiffe in der Straße von Kertsch zusammen, die an ihren engsten Stellen bis etwa 11/4 deutsche Meile, bei Yenikale freilich durch eine weit ausgestreckte Sandbank aus kaum 1/2 Stunde sich verengt.

„Als wir,“ schreibt ein Augenzeuge, „etwa um 3 Uhr um die Taklispitze herum in die Straße von Kertsch einfuhren, hatte ich eine gute halbe Stunde Gelegenheit, das links hingestreckte Land zu studiren, Ebenen, Rücken und Runzeln und Hügel zwischen dem üppigsten, saftigsten, blüthenreichsten Grün des Mai’s, dazwischen zerstreute ärmliche Häuser und Hütten und schwarze, traurige Salzsümpfe. Aber bald zog sich unsere Aufmerksamkeit ausschließlich hinauf nach Kertsch, von wo ferne Donner und weiße Rauchwolken den begonnenen Kampf verkündigten, der freilich eigentlich blos als das großartigste Feuerwerk gelten kann. Plötzlich erhob sich eine

Anmerkungen (Wikisource)

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 327. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_327.jpg&oldid=- (Version vom 12.6.2023)