Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Graf, als ob er durch eine wunderbare Macht dazu gezwungen würde. Die Schöne wählte einen Seitenausgang, und hier stand eine Magd, die ihr einen leichten Mantel und einen runden Strohhut reichte. Während sie sich damit bekleidete, entstand ein Gedränge von Landleuten und Arbeitern an der Thür, denn die Messe war zu Ende. Auch der Graf ward mit fortgerissen, und in der Vorhalle, wo sich Aller Hände nach dem Weihbecken ausstreckten, entstand ein so arges Getümmel, daß mehrere Frauenstimmen laut um Vorsicht baten. George sah, wie das arme Blumenmädchen sich zwischen einem Dutzend jener rohen Fabrikarbeiter befand, die selbst die Heiligkeit des Ortes nicht abhielt, dem zarten Wesen verletzende Aufmerksamkeit zu erweisen; es entstand ein lautes Gemurmel, und jeder wollte der Ritter des schönen Mädchens sein. Mit kräftigen Armen bahnte sich der Graf einen Weg, und schon im nächsten Augenblicke hatte er die Bedrängte erreicht. Wie eine Schutzwehr stellte er sich vor das zitternde Mädchen.
„Zurück!" rief er befehlend.
Murrend und höhnisch lachend gingen die bärtigen, rauhen Gesichter an ihm vorüber. Keiner wagte es ferner, die Hand auszustrecken. Der Strom verlief sich, und bald war George mit seiner Beschützten allein in der Vorhalle. Mit dem Anstande eines Cavaliers ergriff er das Weihbecken und präsentirte es dem jungen Mädchen. Zitternd benetzte sie die kleine Hand mit dem geweihten Wasser und besprengte Gesicht und Brust, indem sie sich fromm bekreuzte. Aber wie sie zitterte auch der junge Mann, denn er hatte ihr in das große himmelblaue Auge gesehen, dessen wunderbarer Blick ihm tief in die Seele drang. Erröthend verneigte sie sich, um ihren Dank abzustatten. In diesem Augenblicke erschien die Magd, der sie leise Auftrag gab, einen Fiaker zu holen.
„Ich bedauere das Mißgeschick, das Ihnen die Feier des Festes trübte“, sagte George höflich. „Der Pöbel umwogt noch die Kirche – ich bitte um die Erlaubniß, Sie bis zum Wagen begleiten zu dürfen.“
„Die Verlegenheit zwingt mich, Ihre Gefälligkeit zu mißbrauchen!“ flüsterte sie verwirrt.
„Wie glücklich preise ich mich, daß es mir vergönnt war, Ihnen einen kleinen Dienst zu leisten.“
Sie legte ihren Arm in den dargebotenen des Grafen. Beide traten aus der Kirche auf den Platz. In einiger Entfernung stand die Magd und unterhandelte mit einem Fiaker. Der Graf war gewandt in der Unterhaltung mit Frauen; hier aber hatte sich eine seltsame Befangenheit seiner bemächtigt. Trotzdem ihre einfache Toilette und der Dienst, den sie bei der Prozession geleistet, eine gewöhnliche bürgerliche Herkunft verriethen, so lag dennoch in ihrem ganzen Wesen ein wunderbares Etwas, das mit ihrer äußern Erscheinung im Widerspruche stand. Die wenigen Worte, die sie gesprochen, bekundeten einen Takt, der nur Damen von hoher Bildung eigen zu sein pflegt. Schweigend hatte man den Fiaker erreicht. Das Blumenmädchen zog leise den Arm zurück und dankte noch einmal durch eine graziöse Verneigung. George faßte Muth, bemächtigte sich zart ihrer niedlichen Hand, die von keinem Handschuhe bedeckt ward, und drückte einen Kuß darauf, ohne daß sie versuchte, es zu verhindern. Dann sprang sie leicht in den Wagen, und die Magd setzte sich zu ihr. In dem Augenblicke, als George den Schlag schloß, bemerkte er, daß Adam sich neben den Kutscher auf den Bock schwang. Zufrieden mit der List des schlauen Dieners sah er dem davoneilenden Wagen einige Augenblicke nach, dann trat er den Weg zu seiner Wohnung an.
Die exotischen Gefühle seiner Brust wurden auf kurze Zeit durch einen Brief verscheucht, den er auf seinem Tische vorfand. Folgende Zeilen waren es, die den poetischen Liebhaber an die traurige Prosa des Lebens erinnerten:
„Dringende Familienverhältnisse zwingen mich, morgen früh Brüssel zu verlassen. Da ich nicht weiß, wann oder ob ich überhaupt zurückkehre, werden Sie es begreiflich finde, daß ich Ihren Wechsel über zehntausend Francs, der schon seit acht Monaten abgelaufen ist, nicht mit mir nehmen kann. Demnach sehe ich mich genöthigt, meine Nachsicht abzukürzen und Sie zu bitten, bewußten Wechsel heute noch einzulösen, Mein Rechtsanwalt, den Sie kennen, ist beauftragt, Ihnen das Papier gegen Zahlung auszuliefern. Nur die Rücksicht auf Ihre Ehre konnte mich abhalten, das Papier gewissen andern Händen zu übergeben. Einer weitern Andeutung bedarf es wohl nicht, um Sie an die Erfüllung Ihrer Pflicht zu mahnen. Daß Sie sich der vielleicht zu ergreifenden strengen Maßregel durch die Flucht entziehen, fürchte ich nicht, Ihre gräfliche Ehre, die ich bisher so großmüthig schonte, bürgt mir dafür.
Der Graf erbleichte, und das Papier zitterte in seiner Hand. Der Wechsel mußte bezahlt werden, denn nicht nur seine Ehre, auch seine persönliche Sicherheit schwebte in Gefahr. Wir erinnern den Leser an Dermont’s Andeutungen über den Lord, der in dem Grafen seinen begünstigten Rivalen bei der Marquise von Beaulieu erblickte. George war ein armer Graf, außer einer kleinen Rente, die ihm nur ein bescheidenes Leben erlaubte, hatte er keine Einkünfte. Die Marquise, eine junge kokette Wittwe von großem Vermögen liebte George, und wenn er diese Liebe auch nicht so heiß erwiederte, so hatte er dennoch das zärtliche Verhältniß unterhalten, weil bei seinen beschränkten Vermögensverhältnissen eine Heirath mit ihr wünschenswerth erscheinen mußte. Anfangs hatte ihn die Eitelkeit zu einer Annäherung an die Wittwe getrieben, die man allgemein feierte, und später, als er sich in dem Besitze ihrer Gunst sah, war seine Liebe nicht frei von Eigennutz geblieben. Der freundschaftliche Umgang mit dem Lord, der um diese Zeit in Brüssel erschien, hatte ihm Gelegenheit zu der Anleihe geboten, und er hatte sie benutzt, weil ihn seine Schulden drängten, die durch den Besuch der höchsten aristokratische Zirkel, in denen sich die Marquise bewegte, entstanden waren. George selbst hatte den Lord bei der Marquise eingeführt, der Engländer schwärmte für die Königin der Salons, und als er sah, daß der arme Freund den Sieg davon trug, war die erste Spannung getreten, die sich vergrößerte, da der Lord nicht selten mit seiner Niederlage geneckt wurde. Er prahlte nun mit seinem enormen Vermögen, und suchte durch Verschwendung zu imponiren. Je höher der Graf in der Gunst der Marquise stieg, je tiefer setzte ihn der Stolz des gekränkten Lords herab. Die Wechselangelegenheit blieb zwar Geheimniß, aber die Feindschaft Darnley’s trat immer offener hervor. George, dem ein gewisser Grad von Leichtsinn nicht abzusprechen war, hatte auf eine Befriedigung seiner Gläubiger durch die Heirath gerechnet, deren Beschleunigung nur von ihm abhing, da ihn die Marquise mit einer überspannten Zärtlichkeit liebte. Daß Darnley, der ihn haßte, mit aller Strenge verfahren würde, ließ sich nicht bezweifeln, und welch ein Triumph mußte es für den Engländer sein, wenn er seinen Nebenbuhler in das Schuldgefängniß führen lassen konnte. Die Marquise war abgereist, und wäre sie auch noch in Brüssel gewesen, hätte er es wagen dürfen, Geld von ihr zu fordern? Würde er sich von ihr nicht völlig abhängig gemacht haben? Und jetzt, wo er ein Mädchen gesehen, für das er in Bewunderung und Liebe erglühte?
Der Schlag mußte abgewendet werden; aber woher sollte er in so kurzer Zeit die erforderliche Summe nehmen? Da fiel ihm Dermont ein, der zwar ebenfalls nicht reich war, aber stets so sparsam lebte und in dem Rufe eines pünktlichen Mannes stand, daß er gewiß helfen konnte. Er eilte nach seiner Wohnung und traf ihn an. In wenig Worten theilte er ihm die Angelegenheit mit.
„Sie sind mein Freund, Dermont,“ schloß er, „und da Sie mir diesen Morgen das Geheimniß Ihres Herzens anvertraut haben, nehme ich keinen Anstand, mit Ihnen meine Ehrensache zu berathen.“
Dermont reichte ihm lächelnd die Hand.
„Es wäre eine Schande für unsern Adel“, sagte er, „wollten wir dem Engländer gestatten, daß er die Macht seines Geldes und seines Hasses eins der Mitglieder desselben fühlen ließe. Sie sind mein Freund, Graf, und da ich weiß, daß Sie dereinst zurückzahlen können, so verwende ich meinen Credit, um Ihnen heute noch die Summe zu schaffen. Ehe zwei Stunden verflossen, werde ich in Ihrer Wohnung sein.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 296. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_296.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)