Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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diese Damen, behaupte ich, kokettiren nur mit der Bildung, während hier wirklich ein Schatz von Kenntnissen vorhanden ist.“
„Also eine gelehrte Dame!“
„Auch das nicht. Sagen Sie, eine denkende, eine fühlende Dame.“
„Und zu allen diesen Ansichten sind Sie durch die kurze Unterredung gekommen?“
„Hören Sie weiter, und bilden Sie sich nicht vorschnell ein Urtheil, vielleicht schildert meine Begeisterung falsch oder mit zu grellen Farben. Ich begleitete sie also durch den einsamen Theil des Parks, dessen Schlangenwege ihr bekannt sein mußten, denn sie führte mich zu der Fontaine. Hier trat uns eine elegant gekleidete, bejahrte Frau entgegen, die auf meine Begleiterin gewartet hatte. Die beiden Damen grüßten sehr artig, dann verließen sie mich. Ich glaubte zu bemerken, daß die jüngere tief erröthete, als ich bei dem Abschiedsgruße einen bedeutungsvollen Blick auf sie warf. Es würde verletzend gewesen sein, wenn ich meine Begleitung hätte fortsetzen wollen. Ich blieb bei der Fontaine, und sah den Damen nach, bis sie in der nächsten Krümmung des Wegs verschwanden. Graf, erlassen Sie mir die Beschreibung des Eindrucks, den das göttliche Geschöpf auf mich ausgeübt hatte. Welch’ ein Contrast lag zwischen ihr und Mathilde! Mir war, als ob ich jetzt erst eine wahrhaft schöne Frau gesehen hätte. Träumend ging ich zur Hauptallee zurück. Da fuhr ein eleganter offener Wagen an mir vorüber – die beiden Damen saßen darin. Unwillkürlich blieb ich stehen und zog ehrerbietig den Hut. Mein Engel aus der Eremitage nickte so freundlich mit dem Kopfe, als ob er mir nicht genug für den kleinen Dienst danken konnte, den ich ihm geleistet hatte. Dies Alles hielt ich für ein günstiges Zeichen, und ich beschloß, der Schönen nachzuforschen. Am folgenden Tage war ich um dieselbe Stunde wieder in dem Parke. Leise schlich ich mich zu der Eremitage und lauschte durch eins der goldgelben Fenster. Meine Ahnung hatte mich nicht getäuscht – die Schöne saß wieder auf der Bank und las im Telemaque.“
„War sie allein?“
„Nein. Ihr gegenüber saß die bejahrte Frau und schlief. Heute war die Leserin einfach in Weiß gekleidet, und da sie den Hut neben sich gelegt, konnte ich den Kopf deutlich beobachten. Das gelbe Licht, das das Fenster erschuf, hatte einen Heiligenschein um das Madonnenhaupt gezogen.“
„Dermont, ich erlasse Ihnen die Beschreibung – fahren Sie fort.“
„Trotzdem mir das Herz gewaltig pochte, hielt ich es dennoch für einen Raub an mir selbst, wenn ich das Anschauen dieses überirdischen Tableaus unterbrechen wollte. Tausend Gedanken durchkreuzten meinen brennenden Kopf, und ich war selbst eitel genug zu glauben, daß die Leserin meinetwegen ihren Platz heute wieder gewählt habe. Einer Dame wie ihr, sagte ich mir, kann es sicher nicht an einem Garten fehlen, in dem sie, ohne sich der Störung auszusetzen, sich der Lectüre des Telemaque hingeben kann. Warum wählt sie diese Eremitage, die jeder Spaziergänger betreten kann?“
„So hätte auch ich philosophirt!“ meinte lächelnd der Graf. „Und haben Sie sich getäuscht?“
„Urtheilen Sie. Nach zehn Minuten erwachte die Schläferin, die Leserin setzte ihren Hut auf, erhob sich, und ließ zu meinem Erstaunen das Buch auf der Bank zurück.“
„Glauben Sie, daß man Ihre Anwesenheit bemerkt hat?“
„Nein, denn ich näherte mich sehr leise, und so lange ich lauschte, hat die Leserin keinen Blick von dem Buche abgewendet. Trotzdem aber nahm ich an, daß sie von einer Absicht geleitet ward, und in dieser Voraussetzung trat ich ihr an der Treppe der Eremitage keck entgegen. Ihr ganzes Gesicht flammte auf, als sie mich erblickte. Nachdem wir einige Schritte gegangen waren, fragte die Aeltere. „„Wo hast Du das Buch?““ – „„Mein Gott, ich habe es schon wieder vergessen!“ rief sie in einer grenzenlosen Verwirrung, und wollte zurückkehren. Sie können sich denken, daß ich ihr zuvor kam und den Telemaque mit einer Miene zurückbrachte, die durchaus meine Ansicht über die Vergeßlichkeit nicht verrieth. Wir sprachen von Fenelon, von der klassischen und von der modernen Literatur, und die unbekannte Schöne legte Ansichten an den Tag, die mich mit Erstaunen erfüllten. So hatte Mathilde nie gesprochen. Und dabei war sie sich so wenig der Macht ihrer Reize bewußt, daß sie nur schüchtern ihre geistreichen Behauptungen aufzustellen wagte. An der Fontaine nahm sie in derselben Weise Abschied, wie Tags zuvor. Ich ging nach der Hauptallee, und dort sah ich ihren Wagen wieder vorüberrollen. Wir grüßten wie das erste Mal. Mathilde war vergessen, aber um meine Ruhe war es geschehen. Die beiden folgenden Tage hatte sich regnerisches Wetter eingestellt, ich ging zur Eremitage, fand aber meine Schöne nicht. Es kam wieder gutes Wetter, aber die Leserin blieb aus. Ich bekenne, daß ich eine qualvolle Zeit durchlebte. Zu Fuß und zu Pferde durchstrich ich die Straßen und Promenaden, ich besuchte das Theater – nirgends fand ich eine Spur von meiner Unbekannten. Auf meinen Wanderungen trug ich ein Billet bei mir, das ich ihr zustecken wollte, im Falle ich sie an einem Orte wiederfinden sollte, wo ich mich ihr nur flüchtig nähern konnte. In diesem Billet bat ich sie um eine Unterredung in der Eremitage; aber leider ist es mir noch nicht gelungen, das Papier an die Leserin zu befördern, deren Namen ich nicht einmal kenne.“
„Und Sie haben sie bis jetzt auch nicht wieder gesehen?“ fragte der Graf.
„Gesehen, aber nicht gesprochen. Täglich, kurz vor zwölf Uhr, fährt sie mit ihrer alten Begleiterin durch den Park, und ich hoffe, daß sie auch heute wieder kommen wird. Die Besuche in der Eremitage hat sie eingestellt. Vorigen Sonntag war ich zu Pferde hier. Ich folgte dem Wagen, der im raschen Trabe fuhr, natürlich in einiger Entfernung, um kein Aufsehen zu erregen. Die elegante Droschke verließ die Stadt, bog in eine Straße blühender Hecken, und hielt vor einem kleinen reizenden Landhause. In dem Augenblicke, als ich vorüberritt, stieg sie aus, ich grüßte und sie dankte. So stehen die Sachen, und vergebens warte ich auf die Gelegenheit, um eine Annäherung zu bewirken; dann aber soll mich Nichts abhalten, mich unumwunden zu erklären.“
Die beiden Männer setzten in der großen Allee ihren Spaziergang fort, es schlug zwölf, aber kein Wagen war zu sehen. Der Graf theilte dem Freunde die Erscheinung des Blumenmädchens mit und schilderte den Eindruck, den sie auf ihn gemacht hatte.
„Das ist seltsam!“ rief Dermont. „So schmachten wir Beide für unbekannte Schönheiten! Aber Sie sind glücklicher als ich, die Marquise wird den Eindruck bald verwischen, während ich –“
„Während Sie hoffen dürfen, Ihr Ziel zu erreichen. Nach der Beschreibung ist Ihre Schöne eine Dame von Stand und Bildung – wer wird mein Blumenmädchen sein?“
Dermont ward nachdenkend, denn die Zeit war so weit vorgerückt, daß er auf das Wiedersehen seiner Schönen für heute verzichten mußte. Am Ausgange des Parks trennten sich die Freunde. Der Graf schlug den Weg nach St. Gudula ein, um die Rückkehr der Prozession zu erwarten. Ohne Mühe gelangte er in das Gotteshaus, denn die große Menge hatte sich bereits verlaufen. In der Vorhalle trat ihm Adam entgegen. Er zog ihn bei Seite und flüsterte:
„Was hast Du erfahren?“
„Bis jetzt nichts, aber es sind alle Einleitungen getroffen, daß ich Ihnen diesen Abend sichere Nachricht geben kann.“
„Wo befindet sich das Mädchen?“
„Folgen Sie mir!“
Adam führte seinen Herrn, der vor Ungeduld brannte, in das Innere der Kirche. Vor einem der Seitenaltäre lag das Blumenmädchen auf den Knien und betete. Zwar hatte sie ihm den Rücken zugewendet, aber an den edeln Formen, an dem von Locken umflossenen Madonnenköpfchen, an der ganzen Haltung des anmuthigen Körpers erkannte er sie auf den ersten Blick wieder. George nahm einen Platz ein, der ihm erlaubte, das Gesicht der Betenden zu beobachten. Es lag etwas unaussprechlich Heiliges in der Erscheinung des jungen Mädchens, das den zur romantischen Schwärmerei geneigten Grafen mit einem ihm bis jetzt noch unbekannten Gefühle erfüllte. Er hatte manche Schönheit gesehen, aber keine, die so rührend zum Herzen sprach, wie diese. Plötzlich bemerkte das junge Mädchen, daß es beobachtet wurde. Verwirrt blickte sie zu Boden und entblätterte eine Rose, die sie in den zarten, wie aus Wachs geformten Fingern hielt. Sie hatte ohne Zweifel denselben Mann wieder erkannt, dessen besonderer Aufmerksamkeit sie auf dem Marktplatze ausgesetzt gewesen war. Noch eine Minute blieb sie in ihrer Stellung, dann erhob sie sich und schwebte wie eine Lichtgestalt die Bogenhalle entlang. Mechanisch folgte der
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 295. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_295.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)