Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Hals trug das liebliche Köpfchen mit natürlicher, ungezwungener Grazie. Der jugendliche, elastische Körper war von einem weißen Mousselinkleide eingehüllt, dessen weite Falten bis zu den Fußspitzen hinabgingen. Die zarte Taille umschlang ein Gürtel von weißem Schmelz, in dem ein schwarzer Rosenkranz mit einem goldnen Kreuze hing. Mehr als ein Beobachter bewunderte diese seltene, und dabei so bescheidene Schönheit.
Die Ankunft der Prozession veränderte die Scene. Die Zuschauer wurden zurückgedrängt, die Garden bildeten einen Kreis um den Altar, und eine kurze Messe begann. Der weite Marktplatz mit der unabsehbaren Volksmenge, die stets neuen Zufluß aus den Straßen erhielt, ward zur Kirche. Unser Beobachter hatte das Mädchen aus dem Gesichte verloren, dessen Schönheit er als eine engelgleiche anerkennen mußte. Für die Festlichkeit hatte er ferner keinen Sinn, und mit Ungeduld harrte er des Augenblicks, der ihm eine Veränderung seines Platzes erlauben würde. Endlich setzte sich die Prozession wieder in Bewegung, aber dem Stutzer war es unmöglich, einen Platz zu gewinnen, von wo er den Gegenstand seiner Bewunderung erblicken konnte. Grollend zog er sich aus dem Menschenstrome zurück, und schlug den Weg nach dem großen Parke ein, um während eines einsamen Spazierganges an die wunderbare Erscheinung zu denken. Er sollte nicht lange allein bleiben, denn in einem der schattigen Laubgänge trat ihm ein Spaziergänger entgegen, ein junger Elegant, der ihn mit der lebhaftesten Freude begrüßte.
„Sie hier, Graf, und um diese Zeit?" rief er aus.
„Wundern Sie sich darüber, Herr von Dermont? Der Tag ist schön, und da das Getöse in der Stadt mir lästig ist – –"
„Man sprach schon davon, daß Sie Ihre Reise nach Scheveningen angetreten hätten.“
„Wer sprach davon?“
„Es war nur eine Vermuthung, die ich gerechtfertigt fand, da die Marquise von Beaulieu schon vorgestern nach dem Orte abgereist ist, wo sie sich von den anstrengenden Freuden des verflossenen Winters zu erholen pflegt. Ach mein Bester, die reizende Wittwe ist der Reise in ein Bad werth! Ich beneide Sie um die Liaison mit der geist- und geldreichen Frau!“
„Sie sind sehr offenherzig, Dermont!“
„Mein Gott, alle Welt spricht darüber! Und, verhehlen Sie es nicht, die Eifersucht des Lords, der bei jeder Gelegenheit mit seinen Pfunden prahlt, ist für Sie ein großer Triumph.“
„Lassen wir das!“ sagte lächelnd der Graf. „Ich halte es für keinen Sieg, dem Lord Darnley vorgezogen zu werden. Er ist mehr einfältig als anmaßend –“
„Wie alle Leute, die ihren Reichthum nicht erworben haben. Verstand und Bildung sitzen bei ihnen in der Kasse!“ rief Dermont. „Uebrigens hegt der Lord eine ernste Leidenschaft für die schöne Marquise, und es sollt mich wundern, wenn er ihr nicht in das Bad folgte, um dort seine eifrigen Bewerbungen fortzusetzen. Seien Sie auf der Hut, Graf, der edle Lord könnte Ihnen gefährlich werden!“
„Ich lasse es darauf ankommen, mein Freund!“ sagte lächelnd der Graf Montlosier. „Vor der Hand werde ich noch in Brüssel bleiben, mag der Lord reisen oder nicht.“
Die beiden Männer gingen Arm in Arm durch den Park. Sie waren die einzigen Spaziergänger an dem sonst so belebten Platze, da die ganze Bevölkerung der Hauptstadt der Prozession folgte. George von Montlosier hörte das Geplauder seines lebhaften Freundes schweigend und theilnahmlos mit an, denn seine Gedanken waren immer noch bei dem reizenden Blumenmädchen, dessen Madonnenköpfchen einen tiefen Eindruck auf ihn ausgeübt hatte. Während des Gesprächs sah Dermont oft nach der Uhr, und unmerklich hatte er den Weg nach der Allee eingeschlagen, die für Reiter und Wagen eingerichtet war.
„Bekennen Sie es, Dermont,“ sagte George, „Sie hat eine bestimmte Absicht um diese Zeit in den Park geführt. Wollen Sie allein sein – ich ziehe mich zurück.“
„Sie haben es errathen, Graf! Aber es ist mir lieb, Sie gefunden zu haben. Sie sind mein Freund, und Ihnen darf ich wohl anvertrauen, daß ich diesen Morgen kein müßiger Spaziergänger bin. Hören Sie eine wunderliche Geschichte, die ich vor vierzehn Tagen hier im Parke erlebt habe.“
„Sind Sie verliebt, Dermont?“ fragte George lächelnd.
„Ich glaube.“
„Seit dem Bruche mit der koketten Mathilde hatten Sie den Frauen ewigen Haß, selbst Verachtung geschworen."
„In der ersten Aufregung hätte ich noch mehr gethan; ich verhehle nicht, daß ich mich damals in einer Verfassung befand, die mir das Leben verhaßt machte, und wäre mir dieses Abenteuer nicht begegnet, wer wüßte, was ich gethan hätte. Fast scheint es, als ob mir das Schicksal einen reichen Ersatz zugedacht hat.“
„Nun, so erzählen Sie!“
„Das Zerwürfniß mit der stolzen Mathilde hatte mir meine heitere Laune völlig zerstört, und ich zog mich aus allen Cirkeln zurück, die das übermüthige Geschöpf zu besuchen pflegte; ich wollte selbst den Schein meiden, als ob ich eine Annäherung suchte. Der Gedanke, daß eine andere Neigung der Grund ihres seltsamen Betragens sein könne, daß man mich gewissermaßen bei Seite geschoben habe, erfüllte mich mit einem unbeschreiblichen Grolle, und ich muß gestehen, daß das Gefühl gekränkten Stolzes mich mehr quälte, als das erlittene Unglück in der Liebe. Um jene Zeit nun sprach ich mich über die Frauen im Allgemeinen aus, wie Sie wissen. Fast muß ich annehmen, als ob sich Gott Amor, den ich lästerte, dafür rächen wollte. An einem heitern Frühlingstage durchstrich ich einsam den Park. Ich kam in die Eremitage, die dort unten tief im Gebüsche versteckt liegt. Erschöpft warf ich mich auf die Bank, die in dem kleinen anmuthigen Raume stand. Durch die farbigen Fenster fiel ein mattes, melancholisches Licht herein, das, vereint mit der Stille der Umgebung, meine düstere Stimmung vermehrte. Ich gefiel mir in dieser Situation, und gab, um mit den Worten eines bekannten Diplomaten zu reden, meinen Gedanken eine besondere Audienz. Da fiel mein Blick auf ein Buch, das neben mir aus der Bank lag. Ich öffnete es und fand: les avantures de Télémaque von Fenelon. Es war eine von den eleganten pariser Taschenausgaben. Ohne weiter an die Person zu denken, die es zurückgelassen, begann ich zu lesen. Die Lektüre interessirte mich, und ich weiß nicht, wie lange ich ihr nachgehangen, als ich plötzlich das Knistern von Schritten und das Rauschen eines Frauenkleides vernahm. Ich sah auf, und eine Dame stand vor mir, deren Schönheit mich blendete wie ein elektrisches Licht. George, es war kein irdisches Wesen, das war ein Engel, eine Göttin. Welch eine Anmuth in dem reizenden, blühenden Gesichte, welche Eleganz in den herrlichen Formen, welche die Blüthe der Jugend schmückte! Sie trug ein Kleid von himmelblauer Seide, einen weißen Shawl und einen weißen Hut mit Federn. George, ich war so geblendet, daß ich nicht daran dachte, sie könne gekommen sein, um das Buch zu holen, und ich vergaß, es ihr anzubieten. Schweigend erhob ich mich und grüßte.“
„Verzeihung, mein Herr, begann eine zarte, kindliche Stimme, Verzeihung, wenn ich störe – ich vermisse ein Buch, das ich ohne Zweifel hier vergessen habe.
„Dann lächelte sie, als sie meine Zerstreuung bemerkte. Himmel, was war das für ein Lächeln! Welche Korallen schimmerten dabei durch den Purpur der feinen Lippen! Welche Grübchen zeigten sich auf den engelgleichen Wangen!“
„Dermont,“ rief der Graf, „mir scheint, Mathilde ist vergessen! Sie sprechen in Ihrer Begeisterung nur von dem Engel – was thaten Sie?“
„Ich überreichte das Buch, indem ich eine Entschuldigung stammelte.“
„Und die Dame?“
„Sie nahm es, und dankte durch eine graziöse Verbeugung. Die reizende Leserin des Telemaque wollte sich nun entfernen. Der Gedanke, daß ich sie vielleicht nie wiedersehen würde, gab mir den Muth, eine Unterredung anzuknüpfen, und sie ging mit einer Leichtigkeit und Gewandtheit darauf ein, daß ich bald meine Fassung wiedererlangt hatte und ruhig die bezaubernde Schönheit bewundern konnte. So begleitete ich sie aus der Eremitage in den Park. Aus ihrem Wesen sowohl wie aus ihrer Unterhaltung ging hervor, daß sie der höhern Sphäre angehörte, und dabei sprach sie mit einer Naivität, die ihrer Schönheit einen wunderbaren Nimbus verlieh.“
„O, sie muß wohl ihre Naivität bewahrt haben, da sie den Telemaque lesen konnte!“ rief der Graf mit einem Anfluge von Ironie. „Ueber das kindliche Gemüth!“
„Spotten Sie nicht, Graf!“ sagte Dermont ernst. „Unsere Salondamen, die von modernen Romanen sprechen, die sie lesen, von Corneille, Raçine, Goethe und Schiller, die sie nicht lesen,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 294. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_294.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)