Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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„Gesellschaft der Künste“ („Society of Arts“ die Kinnlade eines Congreve-Schwefelholzmachers, die ihm durch eine gefährliche, aber gelungene Operation ausgeschnitten worden war, um ihn von der Qual des Kinnladentodes zu befreien. Unzählige seiner Collegen in England, Deutschland, Frankreich, Oesterreich u. s. w. sind Opfer derselben eigenthümlichen, furchtbaren Krankheit.
Schneider, Näherinnen, Schuhmacher und andere krummsitzende Gewerbtreibende leiden massenweise an chronischer, schlechter Verdauung, wodurch das Glück und die Dauer ihres Lebens bedeutend verkürzt wird. Die bei ihrer Arbeit unnatürlich zusammengedrückte Lunge ist nicht im Stande, das Blut und die Nahrungssäfte gehörig zu sauerstoffen. Daher schlechte Verdauung, Lungenkrankheiten und Schwindsucht. Ein Baumwollenlord von Manchester theilte uns neulich mit, daß allein im Departement des Packens binnen zehn Jahren vierzig junge Arbeiter an Abzehrung gestorben seien. Wie manche fleißige Waschfrau leidet an unnatürlich erweiterten Adern in Folge des angestrengten, gebogenen Stehens am Waschfasse, oder an vergifteten Händen in Folge des Gebrauchs scharfer Alkalien und Bleichmittel! Wie viele Arbeiter verderben sich die Augen durch Arbeit dicht an der scharfen, flackernden Gasflamme. Die armen, jungen Mädchen, welche jetzt professionsmäßig Goldketten machen, erblinden zum Theil schon während ihrer Lehrzeit.
Schiffe verbrennen und sinken jährlich mit Tausenden von Menschen und Millionen mühsam erworbener Schätze trotz ihrer luft- und wasserdichten Abtheilungen, trotz der Tausende verschiedener Rettungsboote von der einfachen Planke an bis zu dem patentirten Kunstwerke, das man in der Regel nicht vom Schiffe loskriegen kann, wenn es just gebraucht werden soll.
Baugerüste, von denen schon Tausende herunterfielen, todt oder als gebrochene Krüppel, bleiben immer noch offen, ungeschickt und unsicher, obgleich wir über die Chinesen spotten, die seit Jahrtausenden nicht blos Häuser und Porcellan-Tempel, sondern auch bedeckte, sichere Gerüste zu bauen verstanden. Bleiweiß behält sein Privilegium, Menschen todt zu peinigen. Brauer fallen in ihre eigenen Bottiche, und Seifensieder kochen sich selber mit in ihren quackernden Kupferkesseln. In Fabriken macht sich die offene Maschine oft genug das Vergnügen, Menschen bei den Armen zu packen, sie gegen scharfe Kanten zu schleudern oder zu Brei zu zermalmen. In London, wo mit Dampfmaschinen allerlei sündhaft Vieh zu Wurst gemacht wird, vermißte die Frau eines Dampfwurstmachers plötzlich ihren Gatten und konnte ihn nirgends wiederfinden, bis sie von einem Kunden, der verschiebene Knöpfe in ihrer Wurst gefunden, auf die Quelle seines Verschwindens aufmerksam ward. Er hatte sich von der Maschine packen und mit Haut und Haar zu Wurstbrei zermalmen lassen. Rothglühende Eisenstücke fliegen in des Grobschmieds Auge und scharfe Kiesel stauben in die Pupille des Mauerers. Seeleute, Ziegelbrenner und allerhand amphibische Gewerbtreibende werden von Rheumatismus und Gicht gefoltert. Des Schneiders Fistel und des Bäckers Scrophel sind keine Gespenster der Vergangenheit. Fabrikanten von Chemikalien und Apothekerwaaren vergiften sich mit Pulvern und stechenden Dünsten, indem sie für die Gesundheit ihrer Mitbrüder arbeiten.
Das sind einige von den Quälgeistern der Gewerbtreibenden. Kann das Gewerbe, das so sehr treibt und getrieben wird und sich mit allen Künsten und Gewalten der Wissenschaft waffnet, nicht auch diese bösen Geister vertreiben? Soll die Menge leiden und sterben für die Bequemlichkeit und den Luxus Weniger? Kunst, Wissenschaft und Gewerbe im Verein können sich gegenseitig sehr wohl schützen und fördern; nur ist der eine oder andere Betheiligte immer noch zu bequem, zu kurzsichtig, zu conservativ, um sein Leben zu conserviren. Vor allen Dingen sind es die Gewerbtreibenden selbst, welche sich gegen „Neuerungen“ zu ihrem Wohle steifen. Sie verlachen und verhöhnen den „Respirator,“ der vor Mund und Nase gebunden, alle schädlichen Gase und Substanzen von der Lunge abhält oder zersetzt, ohne das Athmen zu erschweren. Etwas Holzkohle in diesem neuen Respirator entwaffnet die schärfsten, giftigsten Gase, Säuren und Dünste.
„Droguerien-Reiber“ binden den giftigsten Stoffen gegenüber wohl einen Shawl um Mund und Nase, aber oft blos eine halbe Stunde. Wenn sie sich an Gerüche „gewöhnt“ haben, halten sie dieselben für unschädlich. In einer großen Chemikalien-Fabrik kletterte ein Mann mit einem offenen Lichte an einer riesigen Retorte in die Höhe um den sich verbreitenden Wasserstoffgasgeruch zu entdecken. Es erfolgte eine ungeheuere Explosion, und der Mann stürzte in Stückchen zerrissen herunter.
Bäcker können sich gegen ihre Handleiden durch öfteres Reiben mit rohem Fleische schützen, aber sie thun’s nicht. Stubenmaler und überhaupt Gewerbtreibende, die mit mineralischen Farbstoffen zu thun haben, fühlen zuweilen eine Arbeit in ihren Eingeweiden, als wenn darin eine Waschfrau ausränge. Gegen diese Kolikanfälle giebt es zuuächst ein Universalmittel, Reinlichkeit. Mit schmutzigen Händen zu essen und in den farbengetränkten Kleidern auch nach der Arbeit einherzugehen, ist die beste Manier, den Körper auch innerlich auszufärben und mit Bleiweiß auszufüllen. Bleiweiß und Terpentin, stark geheizte und dichtverschlossene Räume halten Viele für nothwendige Bedingungen, um den Wänden und der Decke jene Mattigkeit zu verleihen, die man den gleißenden Oelfarben vorzieht (bei dem Baue des neuen Kaiserschlosses in Petersburg sind bekanntlich Tausende von Malern Opfer jener Geschlossenheit und Hitze geworden). Wenn man’s mit rechter Farbe recht anfängt, ist jene vornehme Mattigkeit der Wände ebenso gut beim freien Zutritt der Luft und ohne künstliche Hitze zu erreichen. Aber freilich, das widerspricht der Fachwissenschaft vieler Stubenmaler, und so fahren sie fort, sich zu vergiften und einzuschließen. Auch das giftige Bleiweiß ist gar nicht nöthig, Zink-Sulphat oder „Zinkweiß“ oder „Zinkblei,“ wie’s die Maler nennen, ist ein ganz vollkommener und unschädlicher Stellvertreter des Bleiweiß. Aber kein Sebastopol ist schwerer zu zerstören als Vorurtheile und Traditionen in Gewerben.
Die meisten Augenleiden, die jetzt mit dem Betriebe gewisser Gewerbe verbunden sind, ließen sich vermeiden. Das Auge ist geschaffen, weißes Licht zu sehen. Das alle künstliche Beleuchtung übertreffende Sonnenlicht erträgt jedes gesunde Auge ohne Nachtheil. Es besteht aus einer Mischung der primären Farben[1] Blau, Gelb und Roth. Künstliche Beleuchtung hat in der Regel zu wenig Blau. Bläuliche Schirme um Oel- ober Talglicht thun daher dem Auge unter allen Umständen gut. Blau in einer gewissen Menge zu künstlichen Lichtstrahlen gebracht, giebt ein weißes, sonnenähnliches (wenn auch schwächeres) Licht. In der großen Lichterfabrik zu Belmont tragen die Arbeiter alle blaue Brillen von gewöhnlichem glatten Glas) und Niemand leidet seitdem mehr an schlimmen Augen. Goldarbeiter, besonders die armen Goldketten-Verfertigerinnen, würden durch dasselbe Mittel unendlich viel Augenleiden fern halten.
In den englischen und amerikanischen Waarenhäusern, wo oft für Millionen von Thalern Fabrikate aufgehäuft sind, lauert die Schwindsucht auf jede schwache Brust und Erkältung, besonders in den mächtigen Kattunniederlagen. Gefärbte Kattune werden im feuchten Zustande dicht und eng gepackt, um die Stoffe glatt und die Farben frisch zu erhalten. Die Diener in solchen Häusern müssen täglich manchmal viele Hunderte von Ballen und Packeten öffnen und dabei die entfesselten Farben- und Wasseratome einathmen. „Wenn wir die Ballen gefärbter Wollenzeuge öffnen, ist’s gerade, als ständen wir bis über die Ohren in faulen Pfützen,“ sagte einmal Einer dieser Lagerhausdiener.
Gegen die Krankheiten der Schneider und Näherinnen giebt’s jetzt Nähmaschinen, die zwar Viele noch kränker, d. h. brotlos zu machen scheinen, aber wenn sie erst sich geltend gemacht haben, werden sie mehr Menschen ihr gesünderes Brot verschaffen, als jetzt die Handarbeit. Die Erfindung der Buchdruckerkunst machte tausend Mönche, die Bücher abschrieben, brotlos, um Millionen von Druckern und Setzern in’s Leben zu rufen.
Für die Schuhmacher hat man Bänke und Tische erfunden, welche ihn in den Stand setzen, in aufrechter Stellung zu arbeiten. Aber Crispin, der alte traditionelle Pechhengst, schimpft auf die Neuerung von Leuten, die von seiner „Kunst nichts verstehen.“ Und so bleibt er hocken mit der Nase über den Knieen und den Pechdraht nach beiden Seiten ausziehend, bis er Löcher in der Brust hat, groß wie eine Hacke am Stiefel. Gepflöckte Schuhe kämpfen mit den pechdrahtgenähten und Guttapercha mit Ledersohlen. Die Pflöcke und die Sohlen von „vegetabilischen Eisen“ (ein guter Ausdruck für Guttapercha) sind Erlöser für den alten Crispin, aber er möchte ihn lieber kreuzigen.
Die Schwefelholzmacher athmen tapfer in phosphorigter Säure den Tod der Kinnbacken ein, obgleich man längst aus unschädlich
- ↑ Vergl. Gartenlaube Nr. 46 von 1854.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 289. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_289.jpg&oldid=- (Version vom 31.5.2023)