Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Ich meine, ich könnte und müßte es abwenden. Und ich weiß doch nicht wie. Das ärgert mich. Und dann, der Kerl drohete offenbar. Ich schwöre darauf, er ist mit dem Trinkat zusammen gewesen. Vielleicht war der Victor auch schon da. Solch Volk giebt sich seine Rendezvous.“
„Sie nehmen da,“ warf ich ihm ein, „in Allem das Unwahrscheinlichste an. Wie würde dieser Mensch drohen, mithin verrathen, wenn er mit den Verbrechern einverstanden wäre?“
„Er war immer ein leichtsinniger Prahlhans. Und ich halte mich daran, was ich fühle, es liegt mir etwas schwer auf dem Herzen.“
„Matz, meine Frau lacht Sie aus.“
Er antwortete nicht.
Wir kamen wohlbehalten in Coadjuthen an und fanden eine freundliche und behagliche Aufnahme beim Gastwirth Wahl.
Am nächsten Morgen früh fuhren wir nach Russisch-Neustadt. Meine Frau mußte gestehen, daß es in Rußland nur wenig anders aussehe, als in Preußen.
Die Gegend hinter Coadjuthen war wieder dürres, graues Haideland, mit wenigen halb fruchtbaren Strichen, auf denen man dann und wann ein armseliges Bauerndorf antraf. Die Wege waren schlecht. Ganz so war es jenseits der Grenze. Die Haide war dort nicht minder und nicht mehr dürr und grau; die Bauernhütten nicht mehr und nicht minder armselig und verfallen. Die Wege waren nur wenig schlechter. Nur Eins war anders, oder sah vielmehr anders aus: die Menschen. Indeß nicht immer schlechter als in Preußen. Die Kosaken freilich, die uns sofort an dem geflickten und verwitterten Grenzschlagbaume empfingen, sahen in ihren grauen, geflickten und doch noch zerrissenen Mänteln, mit den unreinen Gesichtern und den noch unreineren Bärten eben so verwittert aus, wie der Schlagbaum und der Doppeladler, der auf dem gelb und grau angestrichenen Grenzpfahle auf sie herniederblickte, schien nicht mit Stolz über die Söhne sich zu freuen, sondern etwas mürrisch sich ihrer zu schämen.
Auch die Frauen, denen man begegnete, hatten kein freundliches Aeußere. Es waren meist plumpe Gestalten, platte Gesichter mit blasser Farbe, gedrücktem, trägem Wesen, eingehüllt in lange, weite, unkleidsame Jacken von grauer Farbe. Wie sehr stachen diese Szameitinnen ab gegen die flinken, runden oder zierlichen Litthauerinnen in den rothen Margienen und bunten Tüchern. Hübsch waren nur die Jüdinnen, die sich viel und neugierig in Neustadt sehen ließen, feine, listige Gesichter, zierliche Figuren, gehoben durch halb europäische, halb orientalische Tracht. Besonders reizend standen ihnen die kleinen bunten Turbane.
Ein weit hübscherer Menschenschlag als der Litthauer, waren dagegen die Männer in Szameiten. Kräftig gebaut, behende und beweglich, mit frischen Gesichtern und klugen Augen, den graugelben enganschließenden Wandrock mit kurzem aufstehenden Kragen fest um den Leib gegürtet, machten sie durchgängig einen günstigen Eindruck.
Das Städtchen Neustadt (Novemiasto) ist wie andere russische und polnische kleine Städte: schmutzige Häuser von Holz, schmutzige unregelmäßige Gassen. Die bessern Häuser gehören den zahlreichen Juden; die jüdische Synagoge war schöner als die katholische Kirche.
Meine Geschäfte in Neustadt waren bald vollendet. Der russische Assessor aus Rossiena hatte, wie gewöhnlich, jede Vorbereitung verabsäumt, an keine Vorladung, an keine Gestellung, nicht einmal an seine Acten gedacht. So war nur wenig zu verhandeln.
Nach Beendigung dieses Wenigen vergaß ich nicht, mit ihm über den Juden Schlom Schwarzbart zu sprechen. Er kannte den Namen nicht. Ebenso unbekannt war ihm Schlom Weißbart. Ich ließ den Polizeibeamten (Kludszweit) von Neustadt herbeiholen. Auch dieser wollte von einem Schlom Schwarzbart nichts wissen. Es gebe der Schlome gar viele in Neustadt; sie trügen alle Bärte, schwarze oder graue oder weiße. Man unterscheide sie nur nach den Straßen oder Häusern. Wenn ich diese nicht zu bezeichnen wisse, so könne er mir keine Auskunft geben. Er wisse nur, daß man Einen von ihnen in Preußen, wo der Mann lange gefangen gehalten worden, Schlom Weißbart nenne. Der sei ein ordentlicher, braver Mann, wie übrigens alle Schlome und andere Juden in Neustadt. Ich könne mich fest auf das Alles verlassen. Denn nächst Preußen – der Mann machte hierbei eine sehr devote Verbeugung – sei die Polizei nirgends besser als in Rußland.
In wiefern der Mann wahr gesprochen, davon sollt ich mich bald überzeugen. Der Executor Matz, der ihm, als er mich verließ, mißtrauisch gefolgt war, theilte mir alsbald mit, der Polizeibeamte habe sich unmittelbar von mir nach der Gegend begeben, wo die meisten Juden des Städtchens wohnen, und dort in ein Haus, das man ihm als das des Schlom Weißbart bezeichnet habe.
Von einem Schlom Schwarzbart hatte übrigens auch der gewandte Executor nichts erfahren können, und eben so hatte Niemand den Muth gehabt, ihm irgend etwas Nachtheiliges oder Verdächtiges über Schlom Weißbart mitzutheilen. Alle hatten ihn vielmehr einen stillen und braven Mann genannt. Schlom Weißbart war offenbar wieder zu Vermögen gekommen. Darum auch der Schutz der guten russischen Polizei. So bestätigte Schlom Weißbart selbst es mir.
Wenige Augenblicke vor meiner Abreise aus dem Städtchen ließ ein Jude sich bei mir anmelden. Ich nahm ihn an, wiewohl ich vergeblich darüber nachsann, was er von mir wolle.
Schlom Weißbart trat ein. Er sah sehr wohl aus. Das bleiche Gesicht war voll und frisch geworden; die kräftige Gestalt hatte sich gerundet. Sein weißer Bart war sorgfältig gepflegt. Ein langer, bis auf die Knöchel herunter gehender Kaftan von schwarzer Seide gab ihm vollends ein stattliches Aussehen. Seinem Aussehen entsprach sein Benehmen. Der kriechende Jude des ragniter Gefängnisses war nicht mehr zu erkennen. Seine Freundlichkeit hatte er indeß beibehalten. Sie war nur ruhiger, sanfter geworden, wie der Ausdruck seiner großen schwarzen Augen.
„Der Herr Kreisjustizrath verzeihen mir,“ sagte er, „daß ich bin abgereiset von Ragnit, ohne dem Herrn zu danken.“
„Zu danken, Schlom? Wofür?“
In der That kämpften Lachen und Mißtrauen in mir, indem ich die Züchtigung des Juden und die Wuth seines Abschiedes mit diesem Danke zusammenhielt.
Aber sein Gesicht zeigte weder Hohn noch Bosheit.
„Haben der Herr vergessen,“ entgegnete er, „wie Sie mir haben zukommen lassen bessere Kost, und wie Sie haben beschleunigt mein Erkenntniß? Säße ich doch noch jetzt, wenn der Herr nicht hätten gehandelt so gütig an mir.“
Die Untersuchung, in die der Jude verwickelt gewesen, war allerdings noch nicht zu Ende. Ich bemerkte ihm, daß ich nur meine Pflicht gethan, und fragte ihn, wie es ihm jetzt gehe.
Er wurde lebhafter.
„Gut, wie der Herr sehen. Gott ist mir gewesen barmherzig. Er hat gesegnet mein Bemühen. Nächst Gott danke ich es dem Herrn Kreisjustizrath. Ohne den Herrn säße ich noch in Ragnit. Auch meine Frau wollte kommen zu danken dem Herrn. Aber sie konnte nicht verlassen unser Kindchen. Ja, Herr, geboren hat sie mir ein prächtiges Mädchen, vor acht Wochen. Gott behüte mich ferner. Möge er auch behüten den Herrn Kreisjustizrath.“
Der Kutscher meldete, daß angespannt sei. Der Jude entfernte sich mit wiederholten Danksagungen.
Waren sie ernstlich gemeint oder waren sie erheuchelt?
Der Executor Matz, der zugegen gewesen war, sagte:
„Trauen der Herr Kreisjustizrath dem Juden nicht. Er ist ein falscher Bösewicht.“
„Zu welchem Zwecke sollte er geheuchelt haben? Er konnte ja zu Hause bleiben.“
„Ich weiß es nicht. Aber ich traue dem Juden nicht. Es ist mir, als hätte er etwas Schlimmes vor.“
„Sie sehen noch immer schwarz?“
Er antwortete nicht. Aber als wir abfuhren, untersuchte er sorgfältig sein Doppelterzerol.
Wir fuhren den Abend bis Coadjuthen, wo wir die Nacht blieben.
Zum nächsten Morgen hatte ich mehrere Personen nach Coadjuthen bestellt, deren Vernehmung in verschiedenen Untersuchungen nothwendig war, und die, dort in der Nähe wohnhaft, durch Alter oder Kränklichkeit verhindert waren, die Reise nach Ragnit zu machen. Ihre Vernehmung hielt mich länger auf als ich erwartet hatte, so daß es schon drei Uhr Nachmittags war, als wir die Rückreise von Coadjuthen antraten. Niemand war unzufriedener über die Verspätung als der, für die ganze Dauer dieser Reise nun einmal verstimmte Executor Matz. Er wurde noch mehr gereizt, als wir, im Augenblicke der Abfahrt, die Entdeckung
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 283. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_283.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)