Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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jeden Augenblick befürchtet werden mußte, und mit dem Weichen unrettbar ein tödtlicher Fall auf das Steinpflaster, das nach allen Seiten das Schloß umgab. Dazu kam, daß das Schloß vier Schildwachen umstanden, an jeder Mauerseite eine. Jede Bewegung an oder auf der Mauer mußte augenblicklich bemerkt werden.
Trotz allen diesen Vorsichtsmaßregeln war es den beiden Verbrechern gelungen, zu entkommen. Freilich auf keine räthselhafte Weise, dagegen durch Ausdauer, Verwegenheit und Kühnheit, wie sie bisher bei ähnlichen Unternehmungen wohl kaum hervorgetreten waren. Die Zelle der beiden Gefangenen befand sich unmittelbar unter dem ehemaligen Schloßdache. Dieses war durch den Brand im Jahr 1829 zerstört worden. Eine Reparatur hatte in der Art stattgefunden, daß über die Länge und Breite des Gebäudes starke Holzbohlen in einer Dicke von anderhalb Fuß fest und dicht verbunden gelegt waren. Sie bildeten die Decke der dort oben befindlichen Zellen. Aus einer solchen Bohle hatten die beiden Gefangenen ein Stück herausgeschnitten. Durch welches Instrument, war nicht zu ermitteln. Dem Gefangenen, der festen Willen und Geschicklichkeit besitzt, dient eine Nadel zum Bohrer, eine Glasscherbe zur Säge. Durch die entstandene Oeffung waren sie, wenn gleich mühsam, auf die Zinne des Schlosses gekommen. Von ihren Strohsäcken und von Hanf, den sie zum Spinnen in der Zelle verabreicht bekommen, hatten sie ein Seil gemacht, das vollkommen die Länge von der Höhe des Schlosses hatte. Wie lange hatten sie an dem Balken schneiden und sägen, wie lange an dem Hanfe durch allmälige kleine unbemerkbare Entwendungen sammeln müssen! Allein diese Mühe, diese Ausdauer wurden hundertfach überwogen durch den letzten gefahrvollen Theil ihres Unternehmens.
Die Zinnen des Schlosses erhoben sich in ihrer zerstörten Gestalt etwa anderthalb bis zwei Fuß über jener Balkenlage. Nirgends bot sich ein Gegenstand zum Festhalten, Anklammern dar. An ihnen standen die Flüchtlinge, in einer Höhe von mehr als siebenzig Fuß, rund um sich her stockfinstere Nacht, unter sich den furchtbaren Abgrund; dabei rings umher die Stille der Nacht, die jeden Schritt, fast den Athem der unten auf und abgehenden Schildwache zu ihnen herauftrug. Der geringste Laut verrieth sie, das geringste Schwanken warf sie in den gewissen Tod. Dennoch hatten sie sich zurechtgefunden, hatten sie ihr Ziel erreicht. An der Nordseite des Schlosses hatten sie in dem Zinnenwerke ein paar hervorragende Steine gefunden, unzerreißbar gehalten von jenem festen Mörtel der Bauten des Mittelalters, den hier auch die Glut des Feuers nicht hatte zerstören können. Um diese Steine hatten sie das Seil geschlungen, an dem sie sich hinunterlassen mußten.
Die Schildwachen hatten sie durch eine einfache List unschädlich zu machen gewußt. Einer von ihnen hatte sich nach der Südseite des Schlosses begeben, und dort ein Geräusch gemacht, durch welches sämmtliche vier Soldaten nach jener Seite hin an der Mauer zusammen gelockt waren. Diese räumten nachher ein, daß sie in der Nacht zwischen zwei und drei Uhr oben auf dem Dache, an der südlichen Seite des Schlosses, plötzlich ein anhaltendes leises Wimmern, wie eines Kindes, gehört hätten, daß dieses sie sämmtlich nach jener Seite hin zusammen geführt habe, und daß sie dort längere Zeit über die Ursache der schauerlichen Töne sich unterhalten hätten. Manöver und Zeit hatten die Verbrecher benutzt, mit der größten Gefahr ihres Lebens auf der andern Seite von der hohen Mauer, an dem dünnen, zerbrechlichen Seite sich hinunter zu lassen.
Jede weitere Spur von ihnen war verschwunden.
Freilich nicht lange. Wenigstens von Friedrich Victor sollte sehr bald eine, wenn gleich keine erfreuliche Nachricht eintreffen.
Ich hatte sofort Alles, was im ersten Augenblick aufzubieten war, nach den verschiedensten Seiten zur Verfolgung der Entflohenen ausgesandt. Ich war noch damit beschäftigt, Boten an alle benachbarte Polizeibehörden und Gensd’armerieposten zu schicken, als einer der Gefangenwärter in anscheinend leblosem Zustande in seine, im Schlosse befindliche Wohnung gebracht wurde.
Ihm war Folgendes begegnet:
Die Verpflegung der Gefangenen der Kreisjustizcommission war an Bürger der Stadt verdungen. Die Brotlieferung an einen Bäcker, der oben in der Stadt, am polnischen Thore, nach der Memel zu wohnte. Von dort wurde jeden Morgen früh, in den Wintermonaten um sechs Uhr, das Brot geholt. Dies geschah durch zuverlässige Gefangene, welche leichte Gefängnißstrafe zu verbüßen hatten, und von denen eine Entweichung nicht zu fürchten war. Ein Gefangenwärter begleitete sie.
Der Gefangenwärter hatte sich auch an jenem Morgen mit vier Gefangenen zu dem Bäcker begeben. Während ihm das Brot überwiesen wird, stürzt ein Nachbar in das Haus, leichenblaß, mit der Nachricht, wie er so eben zwischen den Hecken des hinter dem Hause, nach der Memel hin belegenen Garten einen großen, wildaussehenden Menschen habe herumschleichen sehen.
„Das ist Victor. Wer folgt mir?“ ruft der entschlossene Gefangenwärter, ein kräftiger, ehemaliger Unteroffizier aus dem litthauischen Dragonerregimente, der in den Freiheitskriegen das eiserne Kreuz und zwei oder drei russische Orden, für das Erschlagen so und so vieler Franzosen im Handgemenge, sich erworben hatte.
Die Bäckergesellen und der Nachbar entsetzten sich und machten sich davon.
„Burschen, Ihr?“ fragt der Gefangenwärter seine Gefangenen.
„Darauf los, Herr Wachtmeister! Wir gehen mit.“
In Litthauen und Ostpreußen werden die Unterbeamten der Gerichte wie der Verwaltungsbehörden, Executoren, Gefangenwärter und so weiter, Wachtmeister genannt. In anderen preußischen Provinzen haben sie andere Namen. In Berlin z. B. wollen sie sämmtlich Herr Nuntius heißen.
Der Gefangenwärter eilte mit seinen Leuten in den Garten.
In demselben Augenblicke flog an dem entgegengesetzten Ende des Gartens eine lange Gestalt über die niedrige Hecke und eilte der Memel zu.
„Es ist der Victor; mir nach!“ schrie der Gefangenwärter. „Ihr Leute, zu Hülfe. Helft den Gefangenen greifen, der heute Nacht entflohen ist.“
Auch die Bäckergesellen hatten Muth bekommen, und der Nachbar und andere Nachbaren. Es entstand eine allgemeine Hetzjagd hinter dem Flüchtling.
Dieser hatte rasch das Ufer der Memel erreicht.
Es lagen dort zwei kleine Nachen, an einem Pfahl angeschlossen. Er stürzte auf sie zu. Er suchte die Ketten, mit denen sie angeschlossen waren, loszureißen. Er versuchte es an dem einen, an dem andern Nachen, vergeblich. Seine Verfolger kamen ihm immer näher. Er suchte den Pfahl aus der Erde zu reißen, an der die Nachen festlagen. Auch hier reichten seine Kräfte nicht aus. Seine Verfolger waren nur noch drei Schritte von ihm entfernt. Sie glaubten ihn sicher zu haben. Sie frohlockten schon. Sie streckten die Hände nach ihm aus, ihn zu greifen.
Mit einem Hohngelächter sprang er in das Wasser. Mit seinen kräftigen Armen zertheilte er, ein fertiger Schwimmer, die Fluthen der Memel.
„Bursche, ihm nach! Wer kann schwimmen?“ rief der Gefangenwärter.
Die Bäckergesellen und die Nachbaren konnten wohl den Mund und die Augen weit aufsperren und dem davon Schwimmenden nachgaffen, aber selbst schwimmen konnten sie nicht.
Unter den Gefangenen war ein kleiner, gedrungener, gewandter Mensch, Mix Szillus, hieß er, ein Schiffer vom kurischen Haff, der eine einjährige Gefängnißstrafe wegen fahrlässiger Tödtung in einer Schlägerei verbüßte. Er sprang vor.
„Ei was, schwimmen, Herr Wachtmeister,“ sagte er. „Ich kann schwimmen wie Einer. Meine Mutter sagt, ich hätte schon in der Wiege geschwommen.“
Die andern Gefangenen lachten.
„Doch den fangen durch Schwimmen in der Memel keine Zehn. In die Nachen! Die Nachen losgemacht, und so ihm nach.“
„Bursch, so klug bin ich auch,“ erwiederte der Gefangenwärter. „Aber die Nachen sind angeschlossen und die Schlüssel in den Häusern. Ehe sie geholt sind, ist der Schuft über alle Berge.“
„Wenigstens über die schreitlauker Berge, Herr Wachtmeister. Aber hier sind Fäuste und Aexte. Heran mit den Aexten, Ihr Männer.“
Die drei anderen Gefangenen warfen sich auf einen der Nachen, um das Schloß zu zerbrechen, die Kette zu zerreißen, den Pfahl aus der Erde zu heben. Ihre vereinten Kräfte reichten nicht weiter als die des Entflohenen. Mix Szillus war klüger. Die vorsichtigen Nachbarn hatten sich in der That vor der Verfolgung mit Aexten versehen. Einem von ihnen nahm er seine Waffe weg.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 271. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_271.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)