Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
|
sehr kleidsame. Die Frau trug ein ziemlich eng anliegendes Kleid von schwarzer Seite, nicht so lang, um einen kleinen Fuß und zart geformte Knöchel zu verbergen. Brust und Schultern verhüllte ein, allerdings etwas sehr bunter Shawl von feinstem, weichstem Kashemir. Den Kopf bedeckte ein zierlicher Turban von rother Seide, mit gelber Seite durchwunden.
Es war eine überraschend schöne Frau; der Körper schlank und schmiegsam gebaut, von nicht zu hoher Gestalt. Das Gesicht von außerordentlicher reiner südlicher Bildung; die Haut blendend weiß und durchsichtig; das Auge, merkwürdigerweise bei einer Jüdin, zumal in jener Gegend, dunkelblau. Dieses blaue Auge und eine fast kindliche Schüchternheit, die über Gesicht und Wesen der Frau ausgebreitet lag, gaben ihr zugleich ein sehr jugendliches Aussehen. Dem Juden mit dem weißen Bart gegenüber glaubte man nicht die Frau, sondern die Tochter zu sehen. Sie trat in demüthiger Haltung ein. Ihr etwas verwirrter, ängstlicher Blick suchte angelegentlich, unzweifelhaft ihren Mann. Sie stand unschlüssig, als sie ihn sah.
Der Gerichtsdiener, der sie herein gebracht hatte, ein alter, an den Dienst gewöhnter Unteroffizier, gab ihrem Auge eine andere Richtung.
„Dort sind der Herr Kreisjustizrath,“ sprach er strenge zu ihr, indem er auf mich wies.
Der ängstliche Blick der Frau wandte sich bittend zu mir.
„Sie können Ihren Mann sprechen,“ sagte ich ihr.
Es entwickelte sich eine merkwürdige Scene.
Schlom Weißbart hatte seine Gestalt hoch aufgerichtet. Die Arme hatte er auf der Brust übereinander geschlagen. Das Auge blickte strenge. Er sah aus, wie ein Herr, der seinen Sclaven empfängt.
Wie eine Sclavin nahete sich ihm die Frau; zögernd, leise, die Arme wie zum Zeichen der Unterwürfigkeit unter der Brust gekreuzt. Etwa drei Schritte vor dem Manne blieb sie stehen. Ein Blick von ihm schien sie festgebannt zu haben.
Er stand unbeweglich. Den strengsten, den durchbohrendsten Blick, dessen dieses dunkle, durchbohrende Auge fähig war, hatte er auf die zitternde Frau gerichtet. Wie viel fragte dieser Blick? Wie viel wollte er erforschen, ergründen, erpressen? Sein Glück, seine Ehre!
Sein Glück? Seine Ehre? Der Verbrecher? Der Räuber? Der Mörder?
War er Verbrecher? War er Räuber und Mörder? Dieser stolze, dieser strenge Blick, dieser Blick der Ehre zeigte das nicht. Wenn aber auch Verbrecher und Mörder, wer will dem größten Verbrecher alles menschliche Gefühl, alle Menschenwürde absprechen? Der Mensch verdamme den Menschen nicht.
Die Frau ertrug den strengen, durchbohrenden Blick des Mannes. Auch sie richtete sich auf, mehr und mehr, je länger und fester er sie ansah. Ihr Auge begegnete klar dem seinigen.
Er war zufrieden. Er reichte ihr die Hand. Sie küßte sie. Dann küßte er sie auf die Stirn.
„Was macht die Sara?“ war sein erstes Wort.
Seine Tochter hieß so.
Die Frau antwortete ihm nicht. Schon während er sie küßte, hatten sich plötzlich ihre Augen mit Thränen gefüllt. Durch die Thränen blickte sie zu ihm auf.
„Wie seid Ihr so mager geworden, Herr,“ sagte sie.
„Laß das. Antworte mir. Wie geht es Euch?“
Seine Stimme wurde freundlicher. Er nahm die zitternde Hand der Frau.
„Wie es uns geht?“ erwiederte sie. „Wie es uns hat ergangen? Schlecht. Ihr könnt es Euch denken, Herr. Wir sind geworden arm, seit Ihr fort waret.“
„Arm? Arm?“
„Die Beamten –“
„Die Schufte, sie haben Dir genommen Alles?“
„Beinahe Alles. Wenn Ihr doch nur bald zurückkehren möchtet nach Hause.“
„Ich komme; ich komme.“
„Bald, Herr?“
„Was macht die Sara? Du hast mir nicht beantwortet meine Frage.“
Die Frau bedeckte ihr Gesicht, mehr nachdenklich, wie es schien, als weinend.
Er wurde dringender, ängstlicher. „Du antwortest mir nicht?“
„Lieber Herr Schlom, wie soll ich Euch sagen?“
„Gott sei barmherzig! Sprich. Was macht das Kind? Die Sara?“ Eine große Angst hatte sich seiner bemächtigt.
„Herr, die Sara –“
„Gott sei barmherzig! Sprich. Rede. Lebt sie?“
Die Frau schwieg.
„Lebt sie? Ist sie todt?“
„Sie ist es!“ sagte die Frau leise, indem sie den Mann umfing, um ihn zu halten.
Er schwankte, sie ließ ihn auf dem Stuhle nieder. Er drückte seine beiden Hände in das Gesicht. Die Thränen drangen zwischen den Fingern hindurch.
„Meine Sara! Todt! Meine Sara! Mein einziges Kind! Gestorben! Im Wahnsinn! Auf den Lippen den Fluch gegen – Wahnsinn! Fluch! – Und ein Bettler! Arm! Alles genommen. Ein armer Bettler, ohne Kind, ohne Alles, Alles haben sie mir genommen. Die Schurken! Aber die sollen – Fort, fort nach Hause.“ Er sprang auf. Sein Blick war Rache, Wuth. Der wüthende Blick fiel auf die still weinende Frau.
„Warum trägst Du den rothen Turban?“ fuhr er sie an. „Warum trauerst Du nicht? Willst Du höhnen meinem Schmerz mit den rothen Lappen?“
„Herr,“ antwortete die Frau demüthig, „durfte mein Anblick schon Euch bringen die Trauerbotschaft?“
Welch’ ein richtiges Gefühl verrieth diese Antwort. Darum auch, um den Schmerz um die Tochter zu mildern, hatte sie ihm zuerst den Verlust des Vermögens gemeldet. Und auch diese Frau war eine verworfene Verbrecherin, eine Mörderin und die Genossin eines Mörders?
Ihr Antwort besänftigte ihn. Er suchte sich zu sammeln.
„Wann ist sie gestorben?“ fragte er.
„Vorgestern. Gestern haben wir sie begraben. Darum konnt ich nicht früher zu Euch kommen.“
Er trat auf mich zu, gesammelt, entschieden. „Herr, ich nehme zurück meine Appellation. Ich muß nach Hause. Lassen Sie mir geben noch heute –“
Er stockte, mit einem Blicke auf seine Frau.
„Wann kann ich verlassen das Gefängniß?“ fragte er.
„Um fünf Uhr heute Abend.“
„Der Herr will mich lassen transportiren bis zur Grenze?“
„Durch die Gensd’armerie. Ich gebe Euch an das Landrathsamt ab.“
Er wandte sich an die Frau. „Hast Du mitgenommen Geld?“
Sie zögerte mit der Antwort, einen mißtrauischen Blick auf mich und die anderen Beamten werfend.
Er machte ihr ein Zeichen, das uns unverständlich war. Sie antwortete mit einem ähnlichen Zeichen.
Er trat wieder zu mir.
„Kann ich werden transportirt für meine Kosten?“
„Gewiß.“
„Auf einem Wagen?“
„Auch das.“
„Heute Abend um fünf?“
„Ich werde beim Landrathsamte dafür sorgen.“
„Bis zur Grenze?“
„Bis zur Grenze hinter Laugszargen.“
„Gehe jetzt,“ befahrl er seiner Frau. „Bestelle einen Wagen nach Laugszargen. Um fünf Uhr bin ich bei Dir im Kruge.“
Die Frau ging.
„Verlaß nicht den Krug,“ rief er ihr noch nach. „Ich komme dorthin. Gehe nicht zu dem Gefängnisse.“
Erst als er hörte, daß die Frau auch das Vorzimmer verlassen hatte, wandte er sich zu mir. „Lassen Sie mir jetzt geben die Hiebe,“ sagte er. „Aber gleich, wenn der Herr mir will thun einen großen Gefallen.“
Man hätte unter anderen Umständen vielleicht lachen können über die dringende Bitte um eine solche Gefälligkeit. Das Bestreben des Juden, die bevorstehende Züchtigung vor seiner Frau zu verbergen, gewann Achtung ab. Ich ließ ihn alsbald zu der Vollstreckung der Strafe abführen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 260. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_260.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)