Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Was konnte er haben? Ich hatte allerdings in einem andern Tone, als früher, kalt, strenge zu ihm gesprochen. Einen Menschen wie ihn konnte das aber nicht zittern machen.
„Erwartet Ihr hier Jemanden?“
„Wer sollte kommen zu mir?“
„Wenn nun etwa Zeugen Eurer Verbrechen? Aus Rußland?“
Hatte ich ihn wollen in Angst setzen, so hatte ich das Gegentheil erreicht. Er athmete auf. Sein Gesicht nahm einen Ausdruck jener ruhigen, bescheidenen Freundlichkeit der früheren Begegnungen mit ihm an.
„Der Herr ist so gnädig, zu scherzen mit mir,“ sagte er. „Aber,“ fuhr er anscheinend in unbefangener Offenheit fort, „weil der Herr sind so guter Laune, so kann ich sagen, was ich habe auf dem Herzen. Ich erwartete, daß meine Frau sei hier.“
Daß seine Unbefangenheit eine gemachte war, zeigte die Aengstlichkeit, die ihn unwillkürlich wieder ergriff, während er die letzten Worte sprach.
Seine Frau war noch nicht da gewesen, seitdem ich in dem letzten Verhöre ihm erlaubt hatte, sie zu sprechen.
„Eure Frau ist nicht hier,“ erwiederte ich ihm.
Er wurde nicht ruhiger.
„Stehe mir Gott bei. Sie hätte hier sein müssen schon vor acht Tagen. Es wird passirt sein ein Unglück.“
„Ihr könnt Euch morgen davon überzeugen.“
„Was, Herr?“ fuhr er auf.
„Euer Erkenntniß von Insterburg ist angekommen.“
„Gott ist barmherzig. Mein Erkenntniß! Morgen? – Ich bin frei?“
„Seid ruhig, und hört den Inhalt des Urtheils.“
Ich las ihm das Erkenntniß vor.
Ich hatte einen fast entsetzlichen Anblick, als ich geendigt hatte und wieder zu ihm aufblickte. Tödtende Bosheit und Rache sprachen sich in seinen dunkel glühenden großen Augen, in seinen zusammengepreßten Lippen aus.
„Strafe?“ stammelte er mit bebender Stimme. „Das Erkenntniß ist gekommen von Insterburg?“
„Ihr habt es gehört.“
„Von Insterburg? Auf die Akten, welche haben hingeschickt der Herr Kreisjustizrath?“
„So ist es.“
„Und auf den Bericht, den haben gemacht der Herr Kreisjustizrath?“
„Auch das ist so.“
Der tödtende Blick traf mich von Neuem, ich möchte sagen, mich jetzt besonders allein. Er sah in mir die Ursache des Straferkenntnisses.
„Ihr könnte appelliren,“ fuhr ich fort, „wenn Ihr der Meinung seid, daß Euch Unrecht geschehe.“
„Ich appellire, Herr, sogleich. Ich bin unschuldig. Unschuldig, und fünfundzwanzig Hiebe! Ich appellire. Nehmen Sie zu Protocoll meine Appellation.“
Auf einmal schien er sich zu besinnen. Langsamer setzte er hinzu: „Und wenn ich appellire?“
„Wie so, wenn Ihr appellirt?“
„Werde ich kommen frei?“
„Nicht vor Rückkehr des Appellationsurtheils.“
„Und das kann dauern wie lange?“
„In den nächsten vier Wochen dürft Ihr nicht darauf rechnen.“
Er wurde nachdenklicher. Er war so sehr mit seinen Gedanken, mit dem Suchen nach einem Entschlusse beschäftigt, daß er darüber ganz die Beachtung seines Aueßeren vergaß. Sein Gesicht bekam den Ausdruck der Gemeinheit, und, was ich bisher an ihm noch nicht beobachtet hatte, jener eigenthümlichen Feigheit des gewöhnlichen Juden, die sich besonders einem körperlichen Schmerze gegenüber äußert. Das sonst so schöne Gesicht des Menschen wurde dadurch ungemein häßlich. Ich hatte mich in meiner Wahrnehmung nicht getäuscht.
„Fünfundzwanzig Hiebe?“ sagte er nach einer Pause. „Steht es so im Urtheil?“
„Fünfundzwanzig.“
„Mit der Peitsche?“
„Mit der Peitsche.“
„Auf den Rücken?“
„Auf das Gesäß.“
„Auf das – ?“
Er vollendete die Frage nicht. Er kniff wüthend die Lippen zusammen.
Nach einer Weile fragte er weiter: „Heute noch?“
„Ihr appellirt ja.“
„Wenn ich aber nicht appellire?“
„Dann noch heute.“
„Und das Urtheil, sagen der Herr, auf meine Appellation kann noch dauern vier Wochen?“
„Mindestens.“
„Und wenn ich nehme die Hiebe, komme ich frei?“
„Sogleich.“
„Morgen?“
„Noch heute, sobald die Züchtigung vollstreckt ist.“
„Ganz frei?“
„Man wird Euch bis zur russischen Grenze transportiren. Von da könnt Ihr gehen, wohin Ihr wollt.“
„Nach Hause? Zu meiner Frau? Zu meiner – ? Morgen?“
Auf einmal fuhr er wieder auf. Jene Furcht vor dem körperlichen Schmerze spiegelte sich wieder in seinem Gesichte. „Fünfundzwanzig Hiebe? Auf das – ? Herr, kann ich sehen die Peitsche?“
„Sie ist im Gefängnißhause.“
„Der Lemkat hat bekommen zwanzig Hiebe mit der Peitsche. Au wai, wie hat er geschrieen. Gebrüllt hat er; wie ein Ochse, den der Schlächter hat getroffen falsch. Es waren nur zwanzig.“
Er sprach mehr mit sich selbst als zu mir. Die Angst vor der Züchtigung erfüllte ihn ganz und gar.
„Fünfundzwanzig,“ fuhr er fort, aber für sich. „Gott, sei barmherzig. Vier Wochen! Meine Frau! Das Kind! Was macht mein Kind! Habe ich nichts von ihr gehört in so langer Zeit. Heute frei! Fünfundzwanzig – ! Barmherzig, Herr! Barmherzig!“
Auf einmal sagte er entschlossen, mit lauterer Stimme: „Ich appellire, Herr! Schreiben Sie es zu Protokoll, ich appellire.“
In diesem Augenblicke trat ein Gerichtsdiener ein, der mir leise mittheilte, die Frau des Schlom Weißbart sei im Vorzimmer, und bitte, ihren Mann sprechen zu dürfen.
Ich konnte mir denken, daß die Unterredung mit seiner Frau einen entscheidenden Einfluß auf den Entschluß des Juden, in Betreff seiner Appellation ausüben werde. Ich beschloß daher, die Frau sofort vorzulassen, zumal da vorschriftsmäßig die Unterredung nur in meiner Gegenwart stattfinden durfte. Ich leugne nicht, daß es mir zugleich interessant war, den Juden bei diesem Wiedersehen zu beobachten, bei der ersten Begegnung mit seiner Frau, die er seit beinahe anderthalb Jahren nicht gesehen, zudem der Genossin eines schweren Verbrechers, bei dem ersten Empfange von Nachrichten über die Seinigen, über deren Schicksale er in der ganzen langen Zeit seiner Gefangenschaft gar nichts vernommen hatte.
„Schlom Weißbart,“ sagte ich zu ihm, „Euere Frau ist hier, um Euch zu sprechen.“
Die unerwartete Nachricht machte einen furchtbaren Eindruck auf ihn. Sein Gesicht wurde leichenblaß, die kräftige Gestalt begann zu zittern, er taumelte beinahe. Zu sprechen vermochte er nicht.
„Wollt Ihr sie jetzt gleich sehen?“ fuhr ich fort.
„Ja, Herr,“ stammelte er, die Sprache wieder gewinnend.
„Wenn der Herr wollen sein so gnädig,“ fuhr er fort. – „Aber ich bitte den Herrn noch um einen Augenblick. Will der Herr erlauben, daß ich mich darf setzen?“
Er bedurfte in der That einer Erholung. Ich gab ihm einen Stuhl. Er setzte sich, den Kopf tief niedergebeugt, das Gesicht mit den Händen bedeckt.
So saß er mehrere Minuten, ohne eine Bewegung, ohne einen Laut. Als er aufstand, schien er ein ganz anderer Mensch zu sein. Keine Spur von Furcht oder Aengstlichkeit mehr in seinem Gesichte. Man sah darin vielmehr den Ausdruck eines festen, fast gebieterischen Stolzes.
„Wollen der Herr jetzt sein so gnädig?“ sagte er.
Ich gab dem Gerichtsdiener einen Wink, die Frau des Juden herein zu führen.
Eine Frau in der Kleidung der wohlhabenderen Jüdinnen von der russischen oder polnischen Grenze trat ein. Diese Kleidung war eine halb europäische, halb orientalische, jedenfalls eine
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 259. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_259.jpg&oldid=- (Version vom 30.3.2020)