Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Er stürzte vor mir nieder, meine Stiefel zu umfassen. Ich mußte mich fast gewaltsam von ihm losreißen.
„Das ist ein großer Bösewicht,“ sagte, als der Jude abgeführt war, der Secretair, wie mit erleichtertem Herzen. „Ein gleißnerischer Bösewicht, den alle Welt fürchtet, in Preußen wie in Rußland.“
„Und dennoch,“ erwiederte ich, „kann Niemand in Preußen oder in Rußland ihn eines bestimmten Verbrechens auch nur anklagen, geschweige überführen. Sollte den Menschen nicht das unverschuldete Unglück eines allgemeinen Vorurtheils verfolgen, das sich so oft, ohne alle Veranlassung, in wahrhaft unbegreiflicher Weise klettenartig an manche Menschen anheftet?“
„Umgekehrt möchte ich glauben, daß seine ebenso große List wie Frechheit seine Verbrechen nur zu sehr zu verdecken weiß –“
„Aber der arme Mensch sitzt ja seit beinahe anderthalb Jahren gefangen zwischen den stärksten Gefängnißmauern, und er hatte nicht einmal Geld, um zu seiner Nahrung sich mehr als Wasser und Brot zu verschaffen.“
„Er hat zu Hause Vermögen, und ein Weib, ebenso boshaft und ränkesüchtig wie er, dabei bildschön.“ –
Gegen den Juden Schlom Weißbart lag nach meinem Erachten kein Beweis eines Verbrechens vor, der eine Strafe gegen ihn hätte begründen können. Nach der ganzen Lage der Untersuchung gegen die Bande war auch keine Bezüchtigung irgend eines Verbrechens, kein weiterer Beweis gegen ihn zu erwarten. Es erschien mir daher völlig ungerechtfertigt, den Juden in fernerer Gefangenschaft bis nach Abschluß der, vielleicht noch ein Jahr dauernden Untersuchung gegen die Bande zu behalten. Andererseits, nachdem die Criminaluntersuchung gegen ihn wegen Theilnahme an den Diebstählen einmal eingeleitet war, konnte er, zumal als Ausländer, ohne ein Urtheil nicht entlassen werden; dieses Urtheil war von dem Oberlandesgerichte in Insterburg zu ertheilen. Dem letzteren sandte ich daher die – dünnen – Akten gegen den Juden, mit den betreffenden Bemerkungen zum Spruche ein.
Unterdessen machte ich noch einen letzten Versuch, um über den Juden eine bestimmte nähere Auskunft zu erhalten. Die russischen Behörden hatten, auf die sämmtlichen vielen amtlichen Ersuchungsschreiben der Kreisjustizcommission zu diesem Zwecke, gar nicht geantwortet. Wenige Tage nach meiner Ankunft in Ragnit erfuhr ich, daß einer meiner Universitätsfreunde, ein Livländer, einen höhern Posten in der russischen Zollparthie an der Grenze bekleide. An ihn wandte ich mich um Auskunft.
Es war ein seltsames Zusammentreffen von Umständen, unter denen ich einige Zeit nachher die Antwort erhielt. Es kam damals täglich nur eine Hauptpost nach Ragnit. Sie kam des Morgens um acht Uhr von Tilsit; sie brachte die sämmtliche Correspondenz aus Deutschland, Preußen und Rußland. Die Briefe für die Kreisjustizcommission sowohl als die Privatbriefe für mich wurden bald nach Ankunft der Post durch meinen Boten des Gerichtes eingeholt und in das Gerichtslokal gebracht, wo ich mich jeden Morgen einfand.
Etwa vierzehn Tage seit Absendung der Akten gegen Schlom Weißbart nach Insterburg mochten verflossen sein, als der Bote, der die Correspondenz von der Post abgeholt hatte, mit dieser mir auch einen Privatbrief aus Rußland an mich überbrachte. Ich eröffnete ihn zuerst. Er war von meinem Freunde. Er betraf den Schlom Weißbart und bestätigte alles Schlechte, was das Gerücht von dem Juden ausgebreitet hatte.
Der Jude Schlom aus Russisch-Neustadt, der seit länger als einem Jahre in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit sich befinde, sei in der That einer der gefährlichsten Verbrecher an der Grenze. Er stehe mit allen Räuber- und Diebesbanden der Grenze in Verbindung, und mache ebensowohl ihren Anführer als Hehler. Man fürchte ihn allgemein wegen seiner Verwegenheit und Grausamkeit. Durch seine Verbrechen habe er sich ein nicht unbedeutendes Vermögen erworben. Dieses gewähre ihm die Mittel, die bestechlichen Beamten von sich abhängig zu machen. Um so mehr sei er von Jedermann gefürchtet, und Niemand wage gegen ihn aufzutreten. Alle Versuche, amtliche Auskunft über ihn zu erhalten, werden vergeblich sein. Das allgemeine Gerücht bezeichne ihn sogar als den Mörder seiner ersten Frau; seine jetzige Frau, gleichfalls eine abgefeimte Verbrecherin, solle ihm bei der That geholfen haben. Seine Tochter, sein einziges Kind aus der ersten Ehe, zur Zeit des Mordes etwa zwölf Jahre alt, sei durch einen Zufall Zeugin des Verbrechens geworden; sie sei seitdem periodisch von Wahnsinn befallen, in dessen Krisen sie furchtbare Sachen spreche. Trotz alledem habe Niemand gewagt, ihn oder seine zweite Frau wegen der That anzuklagen.
Mein Freund schloß seine Nachrichten mit der Bemerkung, daß er begreiflich nur, freilich sorgfältig aufgesuchte Gerüchte mittheile, deren weitere Verfolgung unter den erwähnten Umständen unzweifelhaft ohne alles Ergebniß bleiben werde, die aber schon dadurch eine erhebliche Bestätigung finden müßten, daß während der Haft Schlom’s gerade derartige Grausamkeiten, die ihm Schuld gegeben wurden, bei Diebstählen und Räubereien in der Gegen nicht mehr vorgekommen seien.
Auch dies war wiederum mehr Gerücht, als Auskunft über bestimmte Thatsachen. Aber es war mit so vielen Gründen unterstützt, daß ein großer Theil meiner Zweifel gegen ein so wieder und wieder bestätigtes, allgemein verbreitetes Gerücht verschwinden mußte. Und hatte nicht auch mein erster Blick in den Augen des Juden neben hoher Verschmitztheit jene Blutgier und Mordlust gesehen?
Indeß für die Zwecke der Criminaluntersuchung war von weiteren Nachforschungen augenscheinlich nichts zu gewinnen, der Brief konnte mich daher zu ferneren Schritten nicht veranlassen, und ich beschloß, die Ankunft des Erkenntnisses von Insterburg abzuwarten, es dem Juden zu publiciren und ihn alsdann, da ich nur seine Freisprechung erwartete, sofort der Haft zu entlassen.
Eins der ersten eingegangenen amtlichen Schreiben, die ich darauf eröffnete, brachte das Erkenntniß des Juden. Es lautete gegen alle meine Erwartung nicht freisprechend. Der Angeschuldigte sei im Besitze eines erwiesen gestohlenen Pferdes ergriffen; der Besitz des gestohlenen Gutes bilde nach der Criminalordnung eine nahe Anzeige. Der Angeschuldigte habe bei seiner Verhaftung sich widersetzt, um die Flucht zu ergreifen; Flucht oder Versuch derselben bilde ein zweites Indicium. Der Angeschuldigte werde allgemein als ein Mensch von ebenso schlechtem Charakter als verbrecherischer Lebensweise, besonders auch als Mitglied einer Bande von Dieben bezeichnet. Nun verordne aber der Paragraph 405 der Criminalordnung wörtlich: „Wenn mehrere Anzeigen in einem Falle zusammentreffen, welche mit einander übereinstimmen, und durch den schlimmen Charakter des Verdächtigen und die bisherige schlechte Lebensweise desselben unterstützt werden, so ist ein hoher Grad von Wahrscheinlichkeit vorhanden, bei dem eine außerordentliche Strafe in der Regel kein Bedenken haben kann.“ Der Angeschuldigte sei mithin außerordentlich wegen Pferdediebstahls zu bestrafen. Die ordentliche Strafe des Pferdediebstahls bestehe nach der Verordnung vom 28. September 1808, §. 18 in einer „scharfen Züchtigung von Einhundert Peitschenhieben.“ Es werde deshalb eine außerordentliche Strafe von fünfundzwanzig Peitschenhieben gegen den Angeschuldigten hiermit festgesetzt und erkannt.
Nach den Worten des Gesetzes war diese Entscheidung überall gerechtfertigt. Für meine Erwartung eines anderen Ausfalles derselben mochte mich wohl jene Theilnahme für den Juden eingenommen haben, die seitdem durch die Mittheilungen meines Freundes mindestens sehr verkaltet, wenn nicht in ihr Gegentheil umgeschlagen war. Die Beamten der Kreisjustizcommission jubelten, daß der verbrecherische Jude, trotz alles Leugnens nicht ohne einen „preußischen Denkzettel“ nach Rußland zurückkehren solle.
Ich ließ sofort den Juden vorführen, um ihm das Urtheil zu publiciren.
Er trat mit dem Ausdrucke großer Spannung in das Gerichtszimmer. Er sah unruhig darin umher.
Es ist erklärlich, daß das Schreiben meines Freundes mich veranlaßte, ihn mit scharfem Mißtrauen zu betrachten. Ich sah gleichwohl nur diese Spannung in den Zügen, die ich auch jetzt noch schön und edel geformt finden mußte; keine Tücke, keine Blutgier. Stand wirklich ein furchtbarer Mörder vor mir?
Sein Blick war unterdeß mit steigender, fast zur Aengstlichkeit sich steigernder Spannung auf einer Thür haften geblieben, die in eines der Bureauxzimmer führte. Das fiel mir auf.
„Sucht Ihr Etwas, Schlom Weißbart?“
„Nein Herr. Haben Sie mich doch lassen rufen.“
Er antwortete zögernd. Er schien zu zittern, während er antwortete.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_258.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)