Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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mehr als 300,000 Thaler Sachen versetzt, um den Aermeren Mittel zur Flucht zu verschaffen. Von nun an sah man die Straßen und Wege alle Tage mit Karavanen von Familien besäet, die mit Bündeln und Kindern auf dem Rücken, in benachbarten Dörfern dem Tode zu entgehen suchten, obgleich die Seuche dort oft noch gräßlicher wüthete.
Die Straßen, die Gärten, die Vergnügungsplätze, vor wenigen Tagen noch voll von Glanz und Freude und silbernem Gelächter, lagen jetzt erstarrt, ein Tummelplatz des Pöbels und der Unzufriedenen, welche aus ihren Verstecken und Höhlen hervor kamen, um sich in aller Bestialität zu offenbaren. Die Regierung sah sich sogar genöthigt, die Ruh- und Rücksichtslosesten für schweres Geld zu beschäftigen und sie in Todtengräberbanden, „Becchini“ zu organisiren. Noch heute schauert der Genueser zusammen, wenn er nur das Wort hört. Die Becchini heulten und tranken und herrschten mit ihren rumpelnden Todtenkarren allein durch die schweigende Stadt. Des Nachts sangen, tranken und rauchten sie und donnerten betrunken an jede Thür mit Gebrüll: „Todte ’raus! Todte ’raus!“ Wo noch kein Todter war, legte sich nun Einer nach dem Andern vor Schreck hin, um stumpf und hartnäckig gegen gebotene Hülfe an der Seuche zu sterben. Die Becchini zogen dem Todtenkarren voraus, damit dieser nicht aufgehalten werde. So warteten sie, trinkend und heulend, nicht selten auf dem Haufen der sarglosen, gesammelten Todten sitzend, auf deren Verladung und Ausfuhr. Die Leichen wurden nicht selten auf das Steinpflaster hingeschleudert, daß Knochen zerbrachen. Und wie sahen sie aus, diese Becchini! Entstellte, halb nackte Ausgeburten der Unterwelt mit fliegendem, wirrem Haar, großen, schmutzigen Bärten, braun und gelb im Gesicht, nie gesehen vorher und nur wie auf Geheiß der Seuche aus der Erde gewachsen, in der That das erwachte, Fleisch und Bein gewordene böse Gewissen großer Städte und schlechter Regierung. Letztere hat sich zwar gerade in Sardinien allein durch treues und tapferes Festhalten an freiern Institutionen, wie sie das Jahr 1848 gebar, vor allen italienischen Regierungen ausgezeichnet, aber sie konnte dadurch die Produkte langer Vernachlässigung und Kulturunterdrückung, die feindliche Priesterschaft und die Reaktion der politisch und social Bevorzugten nicht plötzlich beseitigen, so daß sie ein nicht selten in der Geschichte vorkommendes Beispiel von Freiheit und Emancipation des Volkes gegen den Willen des Volkes geben mußte und zum Theil noch muß. Gerade während der Cholera mußte sie die besten, energischsten Institutionen zum Wohle des Volkes erzwingen und vertheidigen und konnte doch Viele nicht dahin bringen, davon Gebrauch zu machen. Sie vertheilte täglich außer Medicin, Eis u. s. w. für 500 Thaler schönes, weißes Brot, sie ließ alle Kleider und Betten der Verstorbenen räuchern und säubern und gab inzwischen neue dafür; sie bot den Aermsten in den schmutzigsten Höhlen bessere Wohnungen, sie ließ Straßen, Höfe, Häuser, Stuben, Treppen fegen, anstreichen, scheuern, kurz sie that Alles, um die Massen materiell und moralisch gegen die furchtbare Seuche zu rüsten; aber man weigerte sich, die alten Schmutzhöhlen zu verlassen, man goß die gebotene Medicin den Aerzten in’s Gesicht und schlug dieselben nicht selten halb todt, weil sie meinten, die Regierung bediene sich der Cholera, der Medicin u. s. w. nur, um das Volk zu vergiften und so zu schwächen, daß es nicht wieder Revolution machen könne. –
Vom Anfange bis zum Ende schrie der Pöbel, daß die Cholera ein Machwerk der piemontesischen Partei sei. Sie lasse des Nachts vergiftete Raketen steigen, welche dann auf die Stadt herabfielen. (Solche Raketen hatte man allerdings nicht selten gesehen, man sagt auf Veranlassung der genuesischen Reaktionäre gegen die Regierung, um dann das Gerücht auszusprengen.) Andere Reaktionäre nährten den Volksglauben, daß die Cholera eine Strafe des Himmels für die freie Verfassung, für das „Festhalten an der Revolution“, für Preßfreiheit und religiöse Toleranz sei. Wieder Andere behaupteten, sie sei eine besondere Strafe für die Waldenser-Ketzerei, eine protestantische Partei, die man dulde, und hatten schon ein förmliches Blutbad gegen dieselbe in Bereitschaft, welches nur durch energische Maßregeln der Polizei- und Militärbehörden verhindert ward. Das Beste thaten die Waldenser selbst durch Gründung von Hospitälern für Unglückliche jedes Glaubens und durch heroisches und edeles Benehmen überhaupt während der ganzen Schreckenszeit, besonders ihres Pastors, eines Flüchtlings von Neapel.
Am Schlimmsten hatten’s die Aerzte. Sie wurden öfter öffentlich auf der Straße als „Vergifter“ überfallen und gemißhandelt, besonders wenn sie Medicin umsonst boten. Nicht selten wurden sie an den Betten von Sterbenden gezwungen, die Medicin, die möglicher Weise den Tod besiegen konnte, selbst zu trinken. In einem Landdistrikte hatte der Syndicus, der etwa mit einem deutschen Landrath zu vergleichen ist, die Lehre verbreitet, daß die Regierung sich der Eisenbahn von Turin und Genua bediene, um Schlangen und Kröten in letztere Stadt zu schaffen, sie dort von Aerzten in Raketen verwandeln und des Nachts steigen zu lassen, um so das Choleragift herab zu senden und zu verbreiten.
Ein englischer Maler, der einige Meilen von Genua von Bauern skizzirend und mit einer Flasche Cognac angetroffen ward, galt sofort als Vergifter, und konnte sich vor der Wuth des gesammelten Volks blos durch Flucht in ein Haus retten, wo er sich vertheidigte, bis Polizei ankam. Hunderte und aber Hunderte, die auf Stroh in öden Höhlen starben, weigerten sich hartnäckig, sich in Hospitäler bringen zu lassen, wenn nicht sie selbst, so doch ihre Angehörigen. Von der Straße in Hospitäler Transportirte bissen noch in den letzten blauen Zügen des Sterbens Zähne und Lippen zusammen, wenn der Medicinlöffel über ihnen schwebte. Selbst das sanfte, ermahnende Wort der „barmherzigen Schwestern“, von deren Heldenthum und Aufopferung man Wunderdinge erzählt, war nicht immer im Stande, den schmutzigen Panzer des Aberglaubens und der scheußlichen geistigen Verwahrlosung zu durchbrechen oder zu öffnen. Außerdem verdarb die Geistlichkeit viel mit ihrem „olio santo“, dem heiligen Oele oder der letzten Oelung, welche mit jedem eingebrachten Kranken immer zuerst vorgenommen ward, ehe die Aerzte herankamen, damit er nicht ohne Sacrament sterbe. Nach der Oelung gaben aber die Meisten sofort alle Lebenshoffnung auf, so daß mit der innern Naturspannung auch die in jedem Menschen thätige Recreationskraft zusammen fiel, und sie starben, weil die belebende Hoffnung, der Wille erstorben war.
So starben bis zum 14. September von dem zurückgebliebenen Drittel der Bevölkerung, etwa 80,000, nicht weniger als 3600. Die Sterblichkeit, in London in demselben Grade angenommen, würde etwa 90,000 Opfer der Cholera gefordert haben. Reinlichkeit, Bildung und Freiheit ließen aber 85,000 davon am Leben und führte die Macht der Seuche auf 5000 zurück. Unter ähnlich gebildeten Massenverhältnissen würde Genua nicht so viel Hunderte verloren haben, als Tausende fielen.
Insofern kann die Cholera überall als ein Barometer der Kultur verschiedener Völker und Städte gelten. Es ist eine tausendfach erwiesene Wahrheit: „Je mehr Kultur, je mehr Wohlstand, Reinlichkeit, Einsicht, Verstandes- und Willenskraft, je mehr materielle und moralische Ventilation und Bewegung im Volke, desto mehr Lebenskraft, desto mehr Berechtigung zu dem Ausrufe: Tod, wo ist dein Stachel? Hölle, wo ist dein Sieg! – Und umgekehrt. Stagnation, Verbot, Hemmung der materiellen und gedanklichen Circulation ist Mord, ist Tod, ist künstliche Veruntreuung des allgemeinen Lebenscapitals und der Freuden und Genüsse dieser Erde.
Im September und October fingen Vertrauen, Hoffnung und Personen an zurückzukehren, aber die Stadt trug noch lange ihren Trauerflor. Tausende waren dahin gerafft worden und die Ueberlebenden bewiesen in ihrem schleppenden Gange, ihren abgehärmten, gelben Gesichtern, was sie gelitten. Erst mit dem neuen Jahre erholte man sich, und als die Regierung mit England und Frankreich ein Bündniß geschlossen und sich verpflichtet hatte, 20,000 Mann für die Krim beizutragen, zog Genua als Hauptversammlungsort und Hafen für die Expedirung der Truppen einen neuen Adam an. Und so sah ich es in seiner dritten Rolle, als Dritten im Bunde der westlichen Civilisation gegen den Osten, einem Bündnisse, das wider Wissen und Willen doch noch am Ende von der Macht der Consequenz getrieben wird, sich wirklich an die Kultur des Westens und deren Interessen zu wenden, wenn sie nicht mit Schande und Ruin dieser Kultur aus dem verlotterten Kampfe zurückkehren will.
Während des März schon fingen die Truppen an, sich in Genua zu sammeln, kräftige, stämmige Söhne der Gebirge von Savoyen, bäuerische Kinder der fruchtbaren Thäler von den achtzehn Betten des Po und seiner Nebenflüsse, lebhafte kleine Kerle von der französischen Grenze mit einem seltsamen Mischdialect von Italienisch und Französisch, womit sie bei ihren Liebeserklärungen, die sie überall ohne Complimente anzubringen suchten, unauslöschliches
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_254.jpg&oldid=- (Version vom 10.5.2023)