Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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„Schlom. Mein Vater hieß Aaron.“
„Ihr führt nur den Namen Schlom?“
„Nur diesen, Herr.“
Mein Vorgänger erläuterte: „In Rußland, wenigstens hier an der Grenze, führen die Juden selten einen Familiennamen. In den Acten heißt dieser Jude übrigens Schlom Weißbart. So nennen ihn auch seine Genossen nach seinem weißen Barte. Er wird dadurch unterschieden von einem anderen, eben so gefährlichen Verbrecher, der mit ihm aus demselben Orte ist, auch Schlom heißt und mit ihm die größte Aehnlichkeit hat, nur daß er einen schwarzen Bart trägt, und der daher Schlom Schwarzbart genannt wird.“
Ich wandte mich wieder zu dem Juden. Ich begegnete noch dem letzten Verfliegen eines listigen, höhnischen Lächelns in seinem Gesichte. „Woher seid Ihr?“
„Aus Russisch-Neustadt.“
„Welches Verbrechens seid Ihr angeklagt?“
Seine Freundlichkeit und Bescheidenheit gingen plötzlich in Heftigkeit über. „Gar keines, gar keines Verbrechens, Herr Kreisjustizrath. Ich bin unschuldig, völlig unschuldig.“
„Ich frage Euch nicht,“ erwiederte ich ihm, „wessen Verbrechens Ihr schuldig, sondern wessen Ihr angeklagt seid?“
„Gar keines, gar keines, Herr Kreisjustizrath. Man kann mir nichts beweisen, man kann mir nichts vorwerfen, nichts, nichts.“
„Die gewöhnliche Sprache aller Verbrecher,“ nahm mein Amtsvorgänger das Wort. „Jeder will unschuldig sein.“
„Aber, Herr, Herr – “ rief der Jude heftiger, lauter, und in seiner Heftigkeit mehr und mehr in die gewöhnliche jüdische Redensweise fallend. „Den Andern kann man doch werfen etwas vor. Man kann ihnen nennen ein Verbrechen, das sie sollen haben begangen. Nennen Sie mir eins. Habe ich gestohlen, habe ich gemordet, habe ich begangen einen Raub? Nicht Sie haben gekonnt, es mir sagen, nicht die Herren Referendarien, Gott stehe mir bei, diese Herren.“
Die Bemerkung des Juden war wichtig. Keiner von den Gefangenen, die ich bisher gefragt, hatte sich eines Verbrechens schuldig bekannt, aber Alle hatten ein bestimmtes Verbrechen, dessen man sie anklagte, zu benennen gewußt. Eine gewisse Verlegenheit in den Gesichtern der Beamten zeigte mir auch, daß außer der Beantwortung des Juden noch etwas Anderes richtig oder vielmehr nicht richtig sein müsse.
Ich unterbrach diesen. „Ruhig, Mann! Beantwortet mir meine weiteren Fragen, aber ohne Heftigkeit.“
Er verbeugte sich tief und demüthig, und stand dann völlig ruhig vor mir. Es war ein wildes Wesen in dem Manne, aber eine eiserne Gewalt, die es zu beherrschen wußte.
„Wie lange seid Ihr hier in dem Gefängnisse?"
„Vor drei Tagen ist es geworden ein Jahr und drei Monate.“
„Habt Ihr Klage über Eure bisherige Behandlung zu führen?“
„Ich bitte, Herr, daß Sie mich bald verhören.“
„Das wird geschehen. Jetzt habt Ihr meine Fragen zu beantworten.“
„0b ich habe eine Klage?“
„Ueber Eure Behandlung hier in der Haft und in der Untersuchung, in Euren Verhören.“
„Verhören?“ platzte es wieder heftig aus ihm heraus. Aber schnell sich fassend, fuhr er fort: „Hier habe ich keine Klagen. Hier nicht. Aber Sie verhören mich bald? Recht bald?“
„Noch in dieser Woche.“
„Gewiß, Herr? Gewiß?“
„Gewiß.“
Er hatte, bevor ich es ihm wehren konnte, den Saum meines Rockes ergriffen und an seine Lippen gedrückt.
Ich setzte den weiteren Umgang in den Gefängnissen fort.
Ueber die vielfachen, mitunter tief erschütternden Eindrücke dieses ersten Besuches jener Gefängnisse hatte ich den Juden Schlom Weißbart nicht vergessen. Ich ließ mir alsbald seine Untersuchungsacten vorlegen. Sie bestanden aus einem einzigen sehr dünnen Heftchen. Aber sie gehörten zu desto zahlreicheren und dickeren Actenbänden. Schlom Weißbart war in eine weitläufige Untersuchung gegen eine große Bande von Dieben verwickelt, die ihre Verbrechen gewerbmäßig zu beiden Seiten der preußisch-russischen Grenze verübt hatte. Die Bande bestand aus einigen zwanzig Köpfen, theils preußischen, theils russischen Unterthanen. Der zur Untersuchung gezogenen Diebstähle waren aber vierzig. Die Diebe hatten ihre Verbrechen mit eben so großer Verwegenheit als List ausgeführt, besonders zahlreiche Pferdediebstähle. Die in Rußland gestohlenen Pferde waren nach Preußen geschafft und hier verkauft; umgekehrt, die in Preußen gestohlenen nach Rußland. Sie hatten so ihr Handwerk lange und um so geschützter vor Verfolgung treiben können, als die Grenzsperre eben nur den ehrlichen Leuten und deren Verkehr die Grenze sperrte. Die Grenzsperre und die Schwierigkeit des Verhandelns mit unwillfährigen, russischen Behörden hatte auch eine unverhältnißmäßige Verzögerung der Untersuchung herbeigeführt. Freilich hatte auch einiges Andere hierzu beigetragen. Die Acten waren sehr voluminös geworden, und die Inquirenten - jene Referendarien - hatten mehrfach gewechselt. Es ist aber keine mühelose Arbeit, vierzig bis fünfzig dicke Bände von Untersuchungsacten durchzufahren, zu prüfen, was Alles noch darin geschehen muß, welche Zeugen noch darin zu vernehmen, welche Confrontationen zu veranstalten, welche Thatbestände sogar noch festzustellen, sodann die articulirten Verhöre abzuhalten und so weiter.
Die Untersuchung hatte schon seit länger als zwei Jahren gedauert. Ich mußte mehrere Tage und Nächte die Acten durchstudiren, um dem Juden mein Versprechen halten zu können, ihn noch in dieser Woche zu verhören. Schlom Weißbart war erst im Laufe der Untersuchung eingeliefert. Sein Name kam jedoch schon im Anfange derselben vor. Er wurde immer als einer der gefährlichen Diebe und zugleich Diebeshehler an der Grenze genannt. Aber er war so benannt nur von den Beamten, den Gensd’armen, den Dorfrichtern, den Polizeischulzen an der Grenze. Von den in der Untersuchung befangenen Verbrechern wollte keiner auch nur seinen Namen wissen. Und auch jene Beamten konnten kein einziges Verbrechen bezeichnen, das er selbst begangen oder zu dem er mitgewirkt haben sollte. Es hieß nur immer, das gefährlichste Mitglied der ganzen Bande sei der Jude Schlom Weißbart aus Russisch-Neustadt. Freilich wohl nicht minder gefährlich sei ein anderes Mitglied der Bande, der Jude Schlom Schwarzbart, dessen man aber bisher nicht habe habhaft werden können. Dabei war die Vermuthung ausgesprochen, Schlom Weißbart und Schlom Schwarzbart müßten Brüder sein, wegen ihrer Aehnlichkeit sowohl im Aeußern als in verbrecherischer Frechheit und Verschmitztheit. Etwas Bestimmtes könne man darüber nicht ermitteln, weil beide Juden nicht ohne Vermögen sein sollten, und daher von den bestechlichen russischen Beamten keine Auskunft über sie zu erhalten sei. Deshalb sei auch an eine Verhaftung des Schlom Schwarzbart oder an eine in Rußland gegen ihn einzuleitende Untersuchung gar nicht zu denken. In der That fand sich in den Acten ein Schreiben der russischen Behörde, wonach ein Schlom Schwarzbart in Neustadt sowohl als Umgegend gar nicht existire. Gegen diesen Schlom Schwarzbart lagen übrigens mehrere bestimmte Zeugenaussagen vor, nach denen er an einer Menge in Preußen verübter Vebrechen unmittelbar Theil genommen und namentlich viele gestohlene Pferde in Rußland verkauft hatte.
Schlom Weißbart war in Preußen arretirt. Zufällig, wie es in den Acten nach einer Anzeige des Dorfgerichtes des Grenzortes Mädischkehmen hieß, hatte man ihn diesseits der Grenze auf einem Pferde reitend, angetroffen, erkannt und sofort verhaftet. Das Pferd war später als ein in Preußen gestohlenes ermittelt worden. Der Diebstahl war schon vor langer Zeit verübt, und gar nichts stand darüber fest, daß Schlom Weißbart daran Theil genommen habe. Und dieser Ritt auf einem gestohlenen Pferde war das einzige Bestimmte, was man dem Juden hatte vorwerfen können. Auch in seiner Haft hatte er sich stets ruhig und ordentlich betragen. War seine Bemerkung oder vielmehr sein Vorwurf im Gefängnisse nicht gewesen?
Gleichwohl wurde von sämmtlichen Beamten der Kreisjustizcommission fortwährend versichert, der Jude Schlom Weißbart sei einer der verwegensten und gefährlichsten Verbrecher, welche auf beiden Seiten der Grenze leben.
Ich ließ ihn zum Verhöre vorführen.
Er erschien ruhig, bescheiden. ohne eine Spur jenes kriechenden Wesens, das ich im Gefängnisse entrüstet zurückgewiesen hatte. Hatte er auch mich studirt?
„Ich habe Euch vorführen lassen, Schlom Weißbart,“ redete ich ihn an, „um das versprochene Verhör mit Euch abzuhalten.“
„Lohne es Ihnen Gott, Herr!“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 243. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_243.jpg&oldid=- (Version vom 18.12.2019)