Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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preußische Regierung an die russische verkaufe und diese wieder an ihre Unterthanen mit Profit ablasse, und das so von den russischen Unterthanen nochmals mit einem Profit, und dennoch doppelt billiger, in das Land, aus dem es ursprünglich gekommen, zurückverkauft werden könne. Ob es wahr ist, müssen die Leute wissen, und die Nationalökonomen und die Regierung. Ein Anderes, das gleichfalls aus Rußland nicht nach Preußen kommen darf, brauchen die Leute hier zwar nicht, aber desto mehr bedarf man seiner in Rußland. Das sind die Russen selbst, die man – durch die Regierung – alljährlich zum Kriegsdienste einfängt und in die Montur steckt.
Wer will es den Unglücklichen verdenken, wenn sie sich zu retten suchen? Die preußische Grenze ist so nahe, der Grenzgraben so schmal, der Grenzwall so niedrig. Der Grenzkosack ist leicht zu täuschen, leichter zu überwältigen, noch leichter zu bestechen. Ein Satz, ein Sprung, und man ist gerettet in dem Lande der – Freiheit und Civilisation! Aber dieses Land der Civilisation hat einen Kartellvertrag mit Rußland geschlossen und garantirt diesem die militärische Sklaverei seiner Unterthanen.
Schmuggel, Grenzexcesse, Kampf und Blutvergießen, das sind die Bestandtheile des Verkehrs an der russisch-preußischen Grenze.
Das einzige Schöne, was ich, nach Hübner’s Zeitungslexikon, in Ragnit hatte finden sollen, fand ich nicht. Das herrliche Comthurschloß der deutschen Herren war nur noch eine Ruine. Am 3. August 1829 schon war es abgebrannt, am Geburtstage des Königs Friedrich Wilhelm III. Es war das auch eine sonderbare Geschichte, die ich ein ander Mal erzählen werde. Und die Ruine des herrlichen Schlosses war nicht einmal schön. Die weiten, hohen und ungeheuer dicken und starken Mauern des äußerlich zerstörten Gebäudes umfaßten ein Zuchthaus und die Gefängnisse der Kreisjustizcommission. Diese Gefängnisse waren überfüllt mit den Verbrechern der Grenze und der Grenzbezirke aus Rußland wie aus Preußen.
Ueber anderthalb Hundert Untersuchungsgefangene saßen allein in den Gefängnissen der Kreisjustizcommission zu Ragnit, als ich mein Amt dort antrat. Alle warteten auf ihr Erkenntniß, das sie der Strafe oder der Freiheit zuführen, dem Zuchthause, Manche dem Henker oder wieder den Ihrigen, der Liebe und der Freude, freilich oft auch dem Jammer zerstörten Familienglückes, oder neuer Verbrechen überliefern sollte. Nicht Wenige warteten schon seit Jahren. In den Gerichtszimmern der Kreisjustizcommission warteten so die zahllosen, voll und dick geschriebenen Untersuchungsakten auf ihre Beendigung, um demnächst an das Oberlandesgericht zu Insterburg zum Spruch versandt zu werden. Wie Vieles aber war noch darin zu thun, bis sie beendigt und zum Spruch eingeschickt werden konnten. Mein Vorgänger hatte vermöge seiner Kränklichkeit mit Energie nicht eingreifen können. Dessen Vorgänger, früher ein Inquirent von der seltensten Befähigung und juristischer wie moralischer Tüchtigkeit, war in seinen alten Tagen völlig jenem Stumpfsinn verfallen, den man bei den ältern Dienern, gerade der preußischen Bureaukratie, so häufig antrifft; dabei aber auch jenem gleichen preußischen Beamteneigensinn, der nicht von seinem Posten weichen will. Die vorgesetzten Behörden hatten ihm junge Leute – Referendarien – zur Aushülfe geben müssen, die vielfach mit dem alten Manne spielten. Dabei war auch das zweite Mitglied der Kreisjustizcommission ein an Geist und Körper schwächlicher, kränklicher Mann. Kein Wunder, daß sich überall Rückstände in den Arbeiten fanden, daß die Akten sich gehäuft und die Gefängnisse sich überfüllt hatten. Indeß die Arbeit mußte bewältigt werden.
Unter den Gefangenen, die mir sogleich beim ersten Besuche der Gefängnisse am Meisten auffielen, war ein Jude, der mir als Schlom Weißbart benannt wurde. Er war in einem der tiefsten Keller des alten deutschen Herrenschlosses eingesperrt, einem Raume mit so dicken und festen Mauern und so schmalen und engen und durch schwere eiserne Stangen vergitterten Fenstern, daß an ein Entweichen aus diesem Gefängnisse gar nicht zu denken war. Er saß dort in Gesellschaft blos der schwersten Verbrecher, nur Räuber und Mörder, die man gerade hier, in der sichersten von allen Gefängnißzellen, zusammengebracht hatte. Er war dort der einzige Jude unter lauter Christen. Er war ein Mann von mittlerem Alter – vielleich nahe an den Vierzigern – und von mittlerer Größe. Sein Gliederbau schien von mehr als gewöhnlicher Kraft zu sein. Seine Bewegungen verriethen es; es zeigte sich noch mehr, wenn der weite Pelz, den er trug, sich zufällig öffnete. Höchst interessant war sein Gesicht. Der Blick blieb unwillkürlich darauf haften; er verweilte mit Neugier darauf, ob auch mit Wohlgefallen oder aber mit innerer Wegwendung, darüber konnte man mit sich selbst nicht einig werden; desto größer war vielleicht gerade deshalb Interesse und Neugier. Der Schnitt des Gesichtes war völlig orientalisch, aber es war nur der feine orientalische Schnitt; die Nase lang und nur wenig gebogen, die Lippen nur wenig aufgeworfen, die Stirn hoch, die Augenbrauen stark und gewölbt, die Augen groß und rabenschwarz. Rabenschwarz und glänzend auch das Haar. Dagegen schneeweiß aber dicht und lang der Bart, der den unteren Theil des Gesichtes bedeckte. Das Gesicht war eingefallen; die Farbe war blaß, aber beides nicht so sehr, um ihm das Aussehen der Kränklichkeit oder Schwäche zu geben.
Auf den ersten Anblick fühlte man den Eindruck eines klaren, ruhigen, etwas melancholischen und beinahe edlen Gesichts. Sah man aber tiefer in das große schwarze Auge, so gewahrte man darin ein scheues, lauerndes Wesen, und man glaubte tief im Hintergrunde Hinterlist und Falschheit, jedenfalls Verschmitztheit zu sehen. Beachtete man den Mann genauer und länger, so sah man die Lippen manchmal plötzlich weiter vorgeworfen, wie unwillkürlich aufgezuckt, und dann heftig, fast gewaltsam zusammengekniffen, und wenn man dann schnell ihm wieder in die Augen blickte und das dunkle Aufblitzen in ihrem tiefsten Grunde mit dem gewaltsam zusammengekniffenen Munde verglich, so konnte man sich kaum des Gedankens erwehren, daß so ein Mensch aussehen müsse, der sich eben die Scene eines Mordes, den er verübt, in das Gedächtniß zurückrufe, oder dem plötzlich Gedanke und Plan eines zu verübenden Mordes ergreife und beschäftige. Das war Blutgier, Mordlust, was hier zuckte und blitzte.
Mein Vorgänger mußte mir die Geschäfte der Kreisjustizcommission übergeben. Dazu gehörte auch die Ueberweisung der Gefängnisse. Wir Beide besuchten gemeinschaftlich jede einzelne Gefängnißzelle, gefolgt von den Gefängnißbeamten und litthauischen und einem polnischen Dolmetscher. Mein Vorgänger bezeichnete mich den Gefangenen als seinen Nachfolger; ich trat darauf an jeden einzelnen Gefangenen heran und fragte ihn, ob er Klage über seine bisherige Behandlung in der Untersuchung und im Gefängnisse habe; er habe sie jetzt anzubringen. Mit den der deutschen Sprache Unkundigen wurde durch die Dolmetscher verhandelt. Nur wenige brachten Klagen wor. Was sie zurückhielt, zeigte der scheue Blick auf die anwesenden Gefängnißbeamten. Ich machte später meine Besuche stets ohne diese.
Zu jenen Wenigen gehörte Schlom Weißbart. Ich hatte ihn, eben weil er mir gleich bei meinem Eintreten aufgefallen war, schon vorher beobachtet, ehe ich in der Reihe des Fragens zu ihm kam. Er hatte vollkommen ruhig dagestanden. In dem Augenblik, als ich mich von seinem Nachbar zu ihm wandte, zuckte es heftig in seinem Gesichte. Sein Auge überflog die Beamten, die hinter mir standen. Die Lippen biß er zusammen. Ich sah zum ersten Male an ihm jenen unheimlichen Ausdruck. Aber kaum eine halbe Sekunde lang. Sein Wesen veränderte sich plötzlich in anderer Weise. Das Auge blieb unruhig, aber es nahm einen freundlichen Ausdruck an. Die Lippen öffneten sich, aber wie zu einer demüthigen Bitte. So beugte er, als ich unterdeß ganz vor ihn getreten war, seinen Körper tief vor mir nieder, mit einer Bewegung seiner Hände, als wenn er den Saum meines Rockes fassen und seinen Mund darauf drücken wolle.
Ich sollte ein solches hündisch-freundlich kriechendes Benehmen von russischen und polnischen Bündeljuden, aber auch Christen, später noch oft kennen lernen in seiner ganzen widerlichen Weise.
Ich trat entrüstet zurück, doppelt entrüstet durch den Kontrast dieses Betragens und jenes Aussehens des Mannes.
In strengem Tone richtete ich meine erste Frage an ihn: „Wie heißt Ihr?“
Er hatte rasch seinen Körper aufgerichtet. Sein Auge stach durchbohrend in das meinige; aber nur während des Aufrichtens. Gleich darauf blickte es mich wieder freundlich bittend an, zwar noch unruhig, aber nicht kriechend.
„Ich heiße Schlom,“ antwortete er bescheiden, in dem tief gurgelnden, schnellen Tone, in welchem die Handelsjuden an jener Grenze das Deutsche sprechen.
„Wie weiter?“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 242. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_242.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)