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Seite:Die Gartenlaube (1855) 239.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

nicht übersteigen, abgezogen werden. Somit hätte das Kind nach Verfluß seines dreijährigen Aufenthalts in der Anstalt schon ein kleines Vermögen erworben, das ihm zum Sporn für Fleiß und Sparsamkeit dienen wird.

Außerdem kann es sich durch Wohlverhalten und ausdauernden Fleiß nebenbei noch ein hübsches Sümmchen erwerben. Es werden nämlich, um Emsigkeit und Arbeitstreue zu befördern, monatlich Prämien von 1 bis 5 Thlr. pro Kopf vertheilt und zur Verfügung der Zöglinge gestellt. Dadurch werden sie in den Stand gesetzt, den Pflichten gegen ihre bedürftigen Aeltern oder Verwandte nachzukommen, indem sie denselben von Zeit zu Zeit eine kleine Unterstützung verabfolgen dürfen. Auch ist ihnen gestattet, sich selber daraus etwas Nützliches anzuschaffen, sei es ein Kleidungsstück oder etwas zu ihrem Vergnügen u. s. w. – Ueberhaupt ist man darauf bedacht, durch Liebe und Freundlichkeit auf die Kinder einzuwirken; man läßt sie fühlen, daß sie nicht mehr die verachteten Bettelkinder von früher sein sollen, sondern Mädchen, aus denen etwas Tüchtiges werden soll. Eine solche Erziehungsmethode hebt ihr Selbstgefühl, verleiht ihnen Muth und Strebsamkeit.

Was die Hausordnung in der Anstalt anbetrifft, so ermahnt während des Sommers Morgens fünf Uhr die Hausglocke sämmtliches Personal, das Bett zu verlassen, sich zu waschen, anzuziehen und zur Arbeit anzuschicken, welche Schlag sechs Uhr beginnt. Eine Stunde später versammelt sich Alles im Speisesaal zum Frühstück, nach welchem eine kurze Betrachtung oder ein Gebet als Morgenandacht selbst, worauf die Arbeit fortgesetzt wird, bis um 12 Uhr die Glocke zum Mittagstisch ruft. Nach dem Essen haben die Kinder eine Stunde frei, während welcher dieselben sich durch Spiele oder Gesang unterhalten. Nachmittags um 4 Uhr wird das Abendbrot ausgetheilt und um 7 Uhr geht’s zum Nachtessen, nach welchem die Abendandacht folgt. Nach derselben beginnt die Arbeitsschule, wo namentlich das so nöthige Flicken von Strümpfen und andern Kleidungsstücken gelehrt und geübt wird. Sehr häufig wird dieselbe durch Gesang, Vorlesen oder Belehrungen verschiedener Art gewürzt, bis sich um 9 Uhr Alles zur Ruhe begiebt. An schönen Abenden läßt man die Kinder die freie Natur genießen, wo sich das Auge weiden und das jugendliche Gemüth erholen kann. Ueberhaupt ist es ein nicht hoch genug anzuschlagender Vorzug der Richter’schen Anstalt, daß sie sich im Freien befindet.

Das Kind, das auf dem Lande erzogen wird, wo es den Frühling in tausend Blumen emporsprossen sieht, in der reifen Kirsche den Sommer begrüßt, bei der schwellenden Traube sich des Herbstes freut und die künstlerischen Launen selbst des Winters an den Eisgebilden des Wasserfalls und den gepuderten Bäumen des Waldes bewundert – ein solches hat sehr wesentliche Vortheile vor demjenigen, das seine Erziehung in der Stadt genießt.

Die Schulstunden der Anstalt finden im Laufe des Tages klassenweise und die Arbeiten in Küche und Haus abwechselnd statt. An Sonntagen geht die ganze Schaar der Zöglinge zur Kirche nach Basel. Wird man durch schlechte Witterung daran verhindert, so ersetzt eine religiöse Betrachtung zu Hause den öffentlichen Gottesdienst. An den Sonntagnachmittagen werden bald da-, bald dorthin kleine Ausflüge gemacht, die Stoff genug zu reichlichem Genuß aller Art bieten. Und so ist denn in der Richter’schen Anstalt für die leibliche und geistige Erziehung der armen Kinder im Sinne ächter Humanität auf jede mögliche Weise gesorgt; sie ist eine Rettungsanstalt in der vollen Bedeutung dieses Ausdruckes.

Zu diesen hohen Wohlthaten der Armenerziehung hat sich Herr Richter-Linder in einen förmlichen Vertrag, der für jedes Kind geschlossen wird, verpflichtet. Dagegen muß sich jedes Kind, wie oben bemerkt, zu einem dreijährigen Aufenthalt in der Anstalt verpflichten. Wie steht’s nun mit dem Halten der Bedingungen? Der letzte Bericht des basellandschaftlichen Armenvereins bemerkt ausdrücklich, daß Herr Richter fast in allen Punkten weit über sein Versprechen hinausgeht, abgesehen davon, daß die wenigsten Kinder die vertragsmäßige doppelte Bekleidung, wohl aber dafür sehr viele Untugenden, wie Krätze, Flechten u. s. w., die von einem unordentlichen, verwahrlosten Lebenswandel herrühren, in die Anstalt hineinschleppen und damit ihre Mitschüler oft vertreiben. Mitunter hat die Anstalt auch zu kämpfen gegen die schädlichen Einwirkungen schlechter Aeltern und Verwandten, bei Besuch der Kinder, die ihrer Obhut entrissen worden sind. Auch dauert es oft lange, bis ein solches armes Geschöpf, das früher arbeitslos in der fernen Welt herum vagirte, sich an Arbeit und Ordnung gewöhnt hat. Sollte aber das Eine oder Andere seinen jetzigen vollgedeckten Tisch mit dem früher gewöhnten Bettelbrot, sein reinliches warmes Bett mit dem frühern Lager in Scheune oder Stall und sein anständiges Kleid mit den frühern Lumpen vertauschen oder wieder zu seinen unordentlichen Aeltern zurückkehren wollen – so ist durch das basellandschaftliche Armengesetz dafür gesorgt, daß der Flüchtling polizeilich seinem Besserungsorte wieder zurückgebracht wird.

Da die Anstalt erst vor kurzer Zeit in’s Leben getreten ist, so kann von einem Erfolg im Großen noch nicht die Rede sein. Indeß sind die bisherigen Erfahrungen größtentheils erfreulicher Art. Das unordentliche Wesen, das einem Mädchen doppelt übel ansteht, verliert sich in der Erziehungs-Fabrik bald; in der Regel finden die Kinder Gefallen an der geordneten Lebensweise und kommen immer mehr zu den häuslichen Tugenden zurück. Manches kommt auch bei der Vergleichung seines frühern Elendes aus dem jetzigen Zustande von selbst dazu, seine Freude (besonders über die guten Betten) und seinen Dank auszusprechen. Und das ist wahrlich nichts Geringes, wenn man bedenkt, daß die Mehrzahl so eigentlich aus den kläglichsten Verhältnissen herausgerissen, zum großen Theil geradezu vom Gassenbettel weggenommen worden ist und oft in einem schrecklichen Zustande der Verwahrlosung an Leib und Seele sich eingestellt hat. Wer die Richter’sche Fabrik besucht, wird sich über das muntere, heitere, gesunde Aussehen der Kinder gewiß innigst freuen und die Ueberzeugung mit sich fortnehmen: sie sind versorgt an Leib und Seele!

Die Grundregel aller Erziehung ist auch hier zur Basis genommen: Gewöhnung zum Guten, damit Kräftigung des Willens, Hebung des Ehr- und Selbstgefühls bei allseitiger Bildung der geistigen und körperlichen Kräfte, schließlich mit specieller Rücksicht auf den künftigen Beruf. Insbesondere mag – wie dies der oben angeführte Bericht andeutet – die Verwirklichung der Ideen des Herrn Richter nach zwei Seiten hin von großer Bedeutung sein. Einerseits übernimmt hier der Fabrikant mehr als blos die Sorge für das tägliche Brot der Arbeiter. Zwar geschieht das auch in vielen andern Häusern und oft in sehr bedeutendem Maße, allein mehr auf dem Wege wohlthätiger Unterstützung, während es hier in den Geschäftsgang förmlich aufgenommen ist. Andererseits ist hier die Frage der Anstalt nach Erwerbung an Subsistenzmitteln von einer anderen Seite angefaßt als es gewöhnlich geschieht. Während sonst ähnliche Anstalten die Erziehung als Erstes voransetzen und noch so viel Arbeit (an Industrie oder Landwirthschaft) hinzufügen, als möglich, geht Herr Richter nun vom Momente der Arbeit aus, und will, sofern die Subsistenz gesichert ist, durch die Arbeit üben und dieselbe hierauf in Schule und allerlei Belehrung, so viel die gewöhnliche Erziehung fordert, hereinziehen.

Die Idee, welche dem Unternehmen des Herrn Richter zu Grunde liegt, verdient in hohem Grade die Beachtung der Industriellen. Herr Richter möchte nämlich, so viel an ihm liegt, durch seine Anstalt jenem nur allzu häufig vorkommenden Uebelstande begegnen, der sich darin zeigt, daß gewesene Fabrikarbeiterinnen so selten im Stande sind, als Hausfrauen und Hausmütter ihre Stelle auszufüllen, aus dem Grunde nicht, weil das Fabrikleben und die Fabrikarbeit nur in sehr unvollkommener Weise für das häusliche Leben und die Führung eines Hauswesens vorbereitet. Mag seine hochherzige Idee die verdiente Nachahmung finden!



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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 239. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_239.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2023)