Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Die Humanität und die Fabrik sind zwei Dinge, die nach den bisherigen Erfahrungen nichts miteinander gemein haben. Um so überraschender wird es für unsere Leser sein, aus diesen Blättern zu vernehmen, daß auch unter dem Kohlendampfe der Fabrik die Blume der Humanität sich auf’s Herrlichste entfalten kann. Was ein Pestalozzi, ein Fellenberg, ein Wehrli für die Erziehung der nothleidenden Jugend erdacht und gethan, das hat ein basler Seidenfabrikant fortgesponnen und in seine Fabrik verpflanzt, und zwar mit einer Bescheidenheit und Anspruchslosigkeit, wie man sie nur bei ausgezeichneten Menschenfreunden findet, und mit einer Umsicht und Einsicht, die Zeugniß davon ablegen, daß der hochherzige Industrielle ebenso gut von der Bestimmung des Menschen durchdrungen, als er mit den veränderten socialen Verhältnissen der Gegenwart bis in ihre dunkelsten Falten vertraut ist.
Herr Richter-Linder ist einer der größten Seidenfabrikanten Basels. Schon seit einer Reihe von Jahren hat er sich mit dem Gedanken beschäftigt, auf welche Weise der immer zunehmenden Armuth am Wirksamsten entgegengesteuert werden könne. Was hierin der Staat thut, ist überall unzureichend, während die Privatwohlthätigkeit den Einzelnen auf Augenblicke den Hunger stillen kann, ohne die Armuth zu heben. Den Hungrigen blos speisen, den Nackten blos kleiden – damit ist dem Uebel noch nicht dauernd gewehrt: es kommt vielmehr darauf an, dessen Ursache zu kennen und dieselbe zu verstopfen. Diese gründliche Methode war es, die Herr Richter-Linder bei seinem edlen Bestreben leitete. Die Zerfahrenheit in allen unsern Verhältnissen, die nothwendige Folge des Uebergangs aus teilweise naturwidrigen zu naturgemäßeren Zuständen, haben erklärlicher Weise Uebel aller Art zu Tage gefördert, welche so vielfach das Aufblühen gedeihlicher Volkswohlfahrt im Keime ersticken mußten. Dieselben bestehen nach Herrn Richter-Linders Ansicht hauptsächlich in Trägheit, Gleichgültigkeit, Mangel an haushälterischem Sinn und Unkenntniß in der Führung eines Hauswesens. Freilich, wo solche Uebel bereits zur langen Macht der Gewohnheit herangewachsen sind und sich in Blut und Mark festgesetzt haben, da ist in der Regel wenig mehr dagegen auszurichten. Wehre man dagegen bei Zeiten jener bösen Macht, damit die verderblichsten Untugenden und die schlimmsten Laster nicht unsere nächsten Blutsverwandten werden. Herr Richter-Linder sah daher wohl ein, daß er sein Heilwerk bei der Jugend und zwar hauptsächlich bei dem weiblichen Geschlechte zu beginnen habe.
So entschloß er sich, für arme, verwaiste, verwahrloste oder sonst der Noth und dem Elend anheim gefallene Mädchen von 12 bis 15 Jahren sein Haus zu öffnen, dieselben durch eine Lehrerfamilie unterrichten und erziehen zu lassen; sie aber hauptsächlich an emsiges Arbeiten, Reinlichkeit, Ordnung und Sparsamkeit zu gewöhnen und sonach dieselben einer glücklichen Zukunft entgegenzuführen.
Daß die Richter’sche Erziehungs-Fabrik – welchen Ausdruck man buchstäblich und nicht bildlich zu nehmen bittet - nicht für die ganze Welt eröffnet sein konnte, versteht sich von selbst; um segensreich zu wirken, mußte sie sich einen gewissen Umkreis ziehen und sich an gewisse Grenzen halten. Sie hat ihre Begünstigung zunächst auf die Armen des benachbarten Kantons Baselland beschränkt und das dortige Armeninspektorat ersucht, die ärmsten und einer wahrhaft väterlichen Erziehung bedürftigsten Mädchen ausfindig zu machen, um sie in der Erziehungs-Fabrik unterbringen zu können. Der genannte Kanton hat in Betreff des Armenwesens 1853 auch ein Gesetz erlassen, das den humanen Bestrebungen des Herrn Richter-Linder recht gut zu Statten kommt. Dasselbe setzt fest, daß Aeltern, welche ihre Kinder beharrlich
- 1) vom Besuche der Schule abhalten oder dazu nicht anhalten,
- 2) zu schlechten Handlungen antreiben oder wissentlich solche dulden
- 3) dem Bettel nachziehen lassen,
- 4) körperlich und sittlich verkümmern lassen, überhaupt die Erziehung derselben auffallend vernachlässigen – das Recht zur Erziehung ihrer Kinder verlieren und daß letztere können den Aeltern weggenommen werden.
Ein ähnliches Gesetz existirt bis jetzt noch in keinem Kanton der Schweiz und kaum in einem andern Staate.
Die Erziehungsanstalt in der Richter’schen Fabrik wurde vom 1. April 1853 mit 30 Pfleglingen eröffnet und seither von Monat zu Monat so erweitert, daß sie gegenwärtig 120 Mädchen zählt.
Machen wir derselben einen kurzen Besuch!
Wandert man zum Riehenthor hinaus aus Basel, so fällt der Blick zunächst auf die vielen und großen Gebäulichkeiten des badischen Bahnhofs, der hart an die hiesige Stadtmauer gebaut ist. Die Lokomotive, die seit einigen Monaten die deutschen Reisenden bis nach Basel bringt, hat dem östlichen Theil der Stadt neues Leben eingehaucht. Außerhalb des geräuschvollen badischen Bahnhofs weht uns aus dem freundlichen Wiesenthal die Luft ländlichen Stilllebens entgegen. Wir gehen den Fußweg am Wiesenteich entlang. Schon nach einigen Minuten schaut uns ein stattliches Fabrikgebäude entgegen: es ist die Anstalt des Herrn Richter-Linder. Nachdem wir etwa eine Viertelstunde gewandert sind, haben wir dieselbe erreicht. Sie liegt hart an dem Wiesenteich, mitten in grünen Wiesen, im Hintergrund von einem Wäldchen begrenzt, hinter welchem die Vorberge des Schwarzwaldes in mannigfaltigen Gruppen emporsteigen. Nach Süden hin erblickt das Auge, über die Wiesenfläche hinweg, die Schweizerberge, nach Westen hin das Häuser-Chaos der Stadt Basel, die Dörfer des fruchtbaren Elsasses, bis in weiter Ferne der blaue Höhenzug der Vogesen dem Blicke eine Grenze setzt. Von den Gebäulichkeiten der Anstalt ragt die neuerbaute Fabrik gewaltig hervor. Es ist das Arbeitshaus der Mädchen. An den durch Wasser und nöthigenfalls durch Dampf getriebenen Maschinen lernen sie Seide putzen, doppeln, zwirnen, hatteln, winden u. s. w. Wöchentlich gehen wohl zwei Centner durch ihre Hände. Ebenen Fußes befindet sich das Schulzimmer und der Speisesaal, groß genug, um die 120 Zöglinge und die Angestellten bequem an dem Tische zu speisen. Zwölf Kühe, die Herr Richter in dem Oekonomiegebäude der Anstalt hält, liefern den Mädchen gesunde und nahrhafte Milchkost, große Vorräthe von Kartoffeln, Erbsen, Reis u. s. w. sind vorhanden, ein eigener Bäcker ist angestellt und aus der Stadt gehen wöchentlich zwei große Sendungen Fleisch in die Anstalt. Die Küche in der Nähe des Speisesaales ist auf das Trefflichste eingerichtet, – vermittelst eines Dampfapparates werden die Speisen gekocht. Daneben befindet sich das Waschhaus, gegenüber die Stube des Schusters und der Nähterin. Eine Badeanstalt ist ebenfalls über dem Teiche angebracht. Einige Schritte weiter steht das Wohnhaus, welches neben der Wohnung der Hausältern die Bäckerei und Schlafsäle umfaßt, wo je unter Aufsicht einer erwachsenen Person die Kinder meist einzeln, doch auch selbander schlafen. Einige Schritte weiter stehen Oekonomiegebäude, vorn an der Straße mit Scheunen und Stallungen das stattliche Haus des Lehnmannes.
Die Zöglinge der Anstalt sind, wie gesagt, in der Regel aus Baselland. Sie haben sich zu einem dreijährigen Bleiben in der Anstalt zu verpflichten, während welcher Zeit Herr Richter „dafür sorgen will, daß sie zu allem Guten angehalten und erzogen, besonders an Ordnung, Reinlichkeit und Fleiß gewöhnt werden.“ In der Fabrik werden sie unter Anleitung eines Webermeisters und mehrerer erwachsener Personen mit Seidenarbeit beschäftigt und wird vor allen Dingen darauf gehalten, daß sie in einem Berufe, der ihnen in dem industriereichen Basel und seiner Umgebung stets ein reichliches Auskommen gewährt, eine gewisse Tüchtigkeit erlangen. Ueberdies werden die Zöglinge zu häuslichen Arbeiten aller Art angeleitet; sie haben Ordnung zu halten in Speise- und Arbeitssälen, Schlafzimmern und Küche, Haus und Hof. Täglich wird ihnen Unterricht im Stricken und Flicken ertheilt. Wöchentlich erhalten sie sechs Stunden Schulunterricht und ein Geistlicher ertheilt außerdem den gesetzlichen Religions- und Confirmations-Unterricht. Beständig stehen sie unter Aufsicht und jeder Augenblick wird benutzt, um anziehend auf sie einzuwirken. Außer freier Wohnung, Wäsche, ärztlicher Hülfe, Unterricht und Erziehung erhält jeder Pflegling ohne Ausnahme nach Verlauf von drei Jahren noch die Summe von 300 Franken, wovon ihm einzig noch die Ausgaben für Kleidung, welche durchschnittlich 100 Franken
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 238. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_238.jpg&oldid=- (Version vom 6.5.2023)