Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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zu erzählen weiß, so daß Beispiel und Beweis keine Zweifel mehr übrige lassen, und der Hanswurst in der Schellenkappe seine Pillen und Flaschen los wird, wie Kirschkuchen. Wir brauchen wohl kaum zu bemerken, daß die Zeugen und Wundererzähler Helfershelfer in bäuerischer Verkleidung sind.
Durch alles Kreischen und Musiciren hindurch hatte ich fast während der ganzen Zeit ein sonderbares fernes Donnern und Brummen in verschiedenen Tönen vernommen, gleichsam eine Melodie in schnell aufeinander folgenden Kanonenschüssen. Mehrmals hatte ich versucht, den Tönen nachzugehen, war aber immer wieder durch Sehenswürdigkeiten und Menschenströme abgelenkt worden. Jetzt erhob sich die Kanonen-Symphonie ganz in meiner Nähe, so daß ich bald dahinter kam oder vielmehr davor stand. Genialer Musikus! An den Querbalken eines großen Thores hat der Virtuose durch eiserne Krampen etwa zwanzig Stück graues Eschenholz von verschiedener Dicke und Länge befestigt, so daß das Ganze wie eine Reihe Orgelpfeifen aussieht. Unten liegen eine Menge Spähne, woraus ich schließe, daß der Mann sein Brotmesser als Stimmgabel dieser hölzernen Orgelpfeifen gebraucht haben muß. Das Instrument, welches mit zwei tüchtigen, breiten Hämmern gespielt wird, dient einem Zauberer und Taschenspieler aus der alten Schule als Orchester. Er speit Feuer, verzehrt einen halben Centner Werg und speit dafür 1000 Ellen Band von verschiedner Farbe aus. Die Holzharmonika aber ist mir neu, wenigstens war Gusikow’s Strohharmonika, die ich vor 15 bis 20 Jahren sah und hörte, eine Zusammenstellung von kleinen, trockenen Hölzern auf Stroh. Und soll ich gestehen, daß diese Musik des grünen Holzes sehr schön war? Sie hatte mich seit Stunden über den ganzen Markt und durch alle die bunten Scenen wie ein nie empfundener Zauber verfolgt. In der Nähe machte zwar die Vibration des großen Thores als Baß zu den hammerentlockten grünen Tönen zu viel Skandal, aber in der Ferne trat die Melodie immer reiner und geistiger hervor, selbst das Thorgepolter schien melodisch zu werden. Außerdem war es eine Orgel und eine Musik, die nicht naiver und genialer sein konnte. Beethovens Pastoral-Symphonie müßte sich sehr hübsch darauf spielen lassen.
Als ich meinen Farmer im Gasthause zum Mittagessen aufsuchte, fand ich das rosengesichtige Milchmädchen schon mit ihrem Bündel bereit, mit uns nach ihrem neuen Bestimmungsorte abzufahren. Sie liebe die „Fiedel-Buden“ nicht, meinte sie, auf welche Aeußerung der Farmer sie sehr belobend auf die frischen, runden Wangen klopfte. Diese „Fiedel-Buden“ sind extemporirte Tanzsäle im Freien, mit Stangen und Leinewand umschlossene Rasenplätze, in welchen bis gegen Morgen gefiedelt, getanzt, getrunken, geliebt und manches Nasenbein entzweigeschlagen wird, Transactionen, die sich selbst charakterisiren, so daß wir uns nicht weiter dabei aufzuhalten brauchen.
Beim Essen hatten wir die herrlichste Aussicht in den offenen Rücken eines Markttheaters und so einen dramatischen Genuß, der gewiß selten vor dem Vorhange zu haben ist, vielleicht nicht einmal in der großen italienischen Oper, als die Königin von England mit ihrem ganzen Hofstaate und den Majestäten von Frankreich erschien und ein Platz in der Gallerie mit 20, eine Loge ersten Ranges aber mit mehr als 1000 Thalern (170 Guineen) bezahlt worden war. Wir sehen die dramatischen Helden und Heldinnen, die immer ein und dieselbe Vorstellung, und zwar jede Stunde dreimal, geben, in ihrem natürlichen Schalten und Walten, hören ihre natürliche Unterhaltung, ihre Wuth gegen benachbarte Concurrenten, die das Publikum weglocken, das Geschäft und den Kunstgeschmack verderben und daß man Mittel ausfindig machen müsse, um die wankelmüthige Masse stärker anzuziehen. Endlich stürzt sich der Unternehmer in Folge wahnsinnigen Beifalls und Gelächters, das die Menge vor ein benachbartes Theater zieht und sein „Haus“ leert, in die Arme der Verzweiflung. Er schlägt sich mit beiden Händen vor die Stirn, windet sich im höchsten tragischen Pathos ganz natürlich und künstlerisch effectvoll, rauft sich das Haar und flucht in einem Englisch, das selbst mein Farmer nicht versteht und kein Lexikon deutet.
Aber sein „Bösewicht“ rettet ihn. Dieser ergreift einen Besenstiel und stellt sich in die Positur des Löwen erschlagenden Herkules. Der Unternehmer klärt sich auf wie der Himmel nach einem Gewitter. Und als der Bösewicht auch die Stellung des „sterbenden Fechters“ glücklich copirt, umarmt ihn der Director, küßt ihn und schreit und läuft wie besessen umher. Ein Junge läuft eilends mit einem Stück Geld in die Stadt hinein, der Bösewicht umwickelt den Besenstiel mit Stroh und Lappen und zieht dann weißen Kattun darüber, so daß die Keule bald fertig ist. Die Theater-Directrice kommt mit Nadel und Zwirn gelaufen und benäht den Bösewicht ebenfalls mit weißem Kattun, während der Director ihm die Muskeln in gigantischen Proportionen ausstopft. Kurz darauf kommt eine Schüssel voll Mehl und ein Becken voll Wasser. Der Bösewicht steckt seinen Kopf in das Wasser, dann in das Mehl, während ihm der Director Nacken und Hinterkopf bestreut und einreibt. Darauf kommt er in furchtbaren Sätzen zu unserm Wirth hereingesprungen und bittet ihn in leidenschaftlicher Gluth um seine Flinte. Er ist unwiderstehlich, bekommt das Gewehr und springt hinaus. Er pfropft einen doppelten Schuß hinein, instruirt mit funkelnden Augen alle seine Leute, die Blase-Instrumente und Sprachröhre haben, mustert den fertigen Herkules und schreitet gravitätisch an der Spitze seiner Trompeter hinaus auf die Bühne. Das Gewehr knallt, die Trompeten schmettern, die Sprachrohre brüllen. Man hört die Menge heranjauchzen. Jetzt springt Herkules hinaus und verrichtet alle imaginären Heldenthaten des griechischen Halbgottes, wie ich wenigstens aus dem Beifalljauchzen der Menge schließe.
Später sehen wir plötzlich die weiße lebendige Herkulesstatue neben dem in einen kohlpechschwarzen Russen verwandelten Director. Das Schwarze und Weiße neben einander rühte mich einerseits als gebornen Preußen, andrerseits war eine patriotische Scene zu erwarten, so daß ich mich eiligst unter die Zuschauer begab. So etwas von Jubel habe ich in meinem Leben nicht gesehen oder vernommen. Der über und über mit Mehl getränkte weiße Herkules klopfte den über und über mit Kohlenruß bestreuten Director und letzterer ersteren so aus, daß Schwarz und Weiß sich zu einem undurchsichtigen, niederträchtigen Grau mischten. Als Schwarz und Weiß der Personen wieder aus dem Gewölk sichtbar wurden, fand sich der Eine Schwarz auf Weiß, der Andere Weiß auf Schwarz so schrecklich eingerieben, daß man kaum noch unterscheiden konnte, welches die Grundfarbe gewesen. Jetzt begann der Kampf. Der ursprüngliche Schwarze lag bald niedergeschmettert. Herkules trat ihm mit dem einen Fuße auf den Kopf, mit dem andern auf einen weiter unten angebrachten Körpertheil, und schrie, die Keule schwingend: „Lady’s and Gentlemen, das ist Rußland!“ Mob und Mop brüllten patriotischen Beifall bis weit in die Ferne. Der Director zählte hernach eine furchtbare Masse großer Kupferstücke, welche ihm seine extemporirte patriotische Jahrmarktskunst zugeregnet hatte, mit einem Ausdrucke von Entzücken, das er der ganzen Gesellschaft aus einer großen Flasche „Gin,“ die er hatte füllen lassen, mittheilte.
Das ist ein Stück aus dem englischen Volksleben auf dem Lande, naiv, geschmacklos und gemüthlich, aber immer noch besser, als wie ich’s von meiner halben Kutschendachloge neben meinem dicken Farmer im kaiserfestlichen London sah. Dichtgeknetete, zu einem unbeweglichen, klumpigen Teige zusammen gearbeitete Massen standen halbe Tage lang still und hölzern, um endlich durch den Anblick von einigen Kutschen und Reitern und betreßten Dienern belohnt zu werden, denn die beiden französischen Majestäten im zugemachten Wagen, auf deren Anblick es Millionen ankam, waren kaum den nächsten und schärfsten Augen hinter den Kutschenwänden theilweise und auf ein paar Secunden sichtbar. Der „Mop“ hatte gleichsam das Motto: „Alles für das Volk und durch das Volk,“ selbst der Menschenhandel; der londoner „Mob“ brachte in seinem millionenfachen Eifer, sich durch den Anblick der eigenen und der fremden Majestäten ein Vergnügen zu machen, blos seine eigene Bedeutungslosigkeit und Inhaltlosigkeit zu Markte.
Der „Mop“ stellte sich als lustiger Markt für Rauf- und verkaufslustige Menschen dar, die ihren Vortheil darin fanden, sich zu verkaufen, der londoner „Mob“ sah so aus, als könnte man ihn, ohne daß er’s wollte oder nur merkte, verrathen und verkaufen.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 237. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_237.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2023)