Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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ältesten und merkwürdigsten Kirchen Frankreichs, St. Victor. Sie war im 13. und 14. Jahrhundert die reichste Abtei und Mutterkirche einer Menge Filiale, durch welche sie unermeßlich reich ward. Südlich davon steht auf dem steilen Felsen: Notre Dame de la Garde, die berühmte Kapelle mit dem Bilde der Jungfrau Maria aus Olivenholz geschnitten, in welchem alle Fischer und Seeleute des mittelländischen Meeres, besonders deren Weiber, ihre besondere und persönliche Schutzheilige verehren. Die Wände und die Decke dieser Kapelle und alle möglichen Winkel und Ecken sind mit der abenteuerlichsten Curiositäten-Sammlung von Opfern und Gelübden angefüllt, welche Seeleute in Gefahr versprachen und dann getreulich ablieferten; Sturm- und Schiffbruchgemälde, Dampfschiffexplosionen, Rettungen von englischen Kriegsschiffen, wundärztliche Werkzeuge und Operationen (gemalt), Krankenbetten, Schiffsmodelle, Hunderte von Tau-Stücken, mit denen Schiffbrüchige gerettet wurden, und eine Masse an Krücken, für welche Gichtbrüchige, Krüppel und Lahme bei ihrem Sterben die heilige Jungfrau zur Erbin machten, auch ein sehr kostbarer, massiv silberner Tintenfisch, ein Geschenk der Fischweiber von Marseille aus der Zeit, als die Cholera zum ersten Male nahte, um durch diese Gabe wo möglich Schonung zu erkaufen.
Es liegt eine sonderbare Zauberkraft in einem Menschenstrome. Vielleicht ist’s eine Art von animalischem Magnetismus, der auch den Gleichgültigen und Widerwilligen, der gegen den Strom schwimmen will, mit sich fortreißt. So hatt’ ich z. B. am 16. April weder Zeit noch Lust, die nun doch wahr gewordene triumphirende „Invasion“ des Kaisers Napoleon durch die Straßen Londons mit anzusehen, aber der Strom packte mich und so befand ich mich bald unter dem schönsten, in London seltensten klaren Sonnenscheine mitten in unabsehbaren Fluthen und Wogen von Menschen, die mich bis nach Charing Cross, bis in den Trafalgar Square mit sich fortschwemmten. Hier stopften und staueten sich die Menschenströme aus verschiedenen zusammenstoßenden Hauptstraßen um so hartnäckiger, als dies für einen der besten Schauplätze galt. Der große Kaiserzug mußte aus der fahnenwehenden Parliamentstreet herauf über den Platz nach Pall Mall kommen. Aber wie über die Tausende von Köpfen und Hüten hinwegsehen, zumal da jeder Engländer heute durch die ausdehnende Kraft langhalsiger Neugier einen Kopf größer geworden zu sein schien? Fenster waren nicht mehr zu haben und die genial improvisirten Tribünen, Droschken- und Omnibusdächer auch schon polizeiwidrig dicht besetzt. Doch guter Wille und guter Humor auf einem noch nicht überladenen Droschkendache in Verbindung mit der begeisterten Beredsamkeit des Kutschers machten noch für einen halben Sitz auf der äußersten Kante Raum. Mehr war nicht menschenmöglich, da ein dicker Farmer, der ziemlich bis an die Kante heranschwoll, durchaus nicht in kleinere Dimensionen zu bringen war. So bezahlte ich mein „Entree“ und nahm mit einem aristokratischen Anfluge von Erhabenheit über die Menge meine Eckloge mit der Hälfte meines körperlichen Daseins ein. Die andere Hälfte bemühte sich nicht ohne stille Heldenarbeit, so wenig als möglich Schwerkraft zu behalten und frei in der Luft zu schweben, aber es war blos Verstellung und schob ihr Gewicht durchaus auf die eine Hälfte der Sitzmuskeln, die ihrerseits durch Anklammern an das Muskel- und Schmalzgebirge des Farmers nach Linderung drückender Leiden strebten. Sie thaten dies im Vertrauen auf die Gutmüthigkeit dicker Herren überhaupt.
Ein dicker und fetter Herr hat ohne Weiteres etwas Gemüthliches. Jeder hat ihn gern, wie er auch gegen Jeden etwas Liebenswürdiges zeigt. Essen und Trinken schlägt bei ihm an, das Gesetz des „Stoffwechsels“, der Mauserung arbeitet stets zu seinem Gunsten. Er schwillt majestätisch aus und füllt so einen respektablen Raum im Leben. Er ist wandelnder Priester der Dankbarkeit für die Güter der Erde und der Fülle davon, eingefleischtes Zeugniß für die Nichtigkeit irdischer Sorgen, strahlende, vollmondglänzende Manifestation der Weisheit guten Humors. Der dicke Herr ist also kraft seiner Fülle an und für sich schon ein populärer Mann und in der Regel verdient er das auch. Im vollgedrängten Omnibus habe ich fast stets die Erfahrung gemacht, daß der dickste Mann immer am Ersten bereit war, Platz zu machen. Eine ähnliche Erfahrung machte ich mit meiner halben Eckloge.
Anfangs konnte ich sein Gesicht vor Fett nicht sehen, aber als er mir plötzlich zurief: „Halloh, my dear Frenchman (jeder nicht besonders gelehrte Engländer hält jeden Fremden mit einem Barte immer noch für einen Franzosen) How are you now?“ [1] erkannte ich ihn wieder, hier über dem „Mob.“ Wir hatten ja zusammen den „Mop“[2] besucht und uns amüsirt, wie man sich nur mit einem dicken Herrn amüsiren kann. Im Gespräch über unsere Mop-Freuden vergaßen wir Beide den londoner Mob und den prächtigen Kaiserzug, der sich durch die Massen hindurchbewegte.
Der Mop ist einer der originellsten englischen Landvolksfestlichkeiten, die jetzt so frisch und bunt in meiner Erinnerung auftauchten, daß ich nicht begreife, wie ich sie bis dahin hatte unbeachtet lassen können. Der Farmer erzählte mir auf dem Droschkendache, während wir noch auf die Majestäten warteten, daß er auf dem „Mop“ einen ganz guten Kauf gemacht habe. Der Knecht sei vortrefflich und die beiden Mägde hätten zwar ihre Fehler, da die Eine Alles benasche und die Andere alle Augenblicke mit einem „Zukünftigen“ ertappt werde, seien aber sonst ganz brave und fleißige Mädchen.
Also hatte er Menschen gekauft. Ja der „Overtopping Mop,“ das heißt, das alle Jahre am 1. October gefeierte Volksfest in Overtopping oben nicht weit von der Themse mitten im Lande, ist ein ganz entschiedener, professioneller Menschenmarkt. Ich war vorigen Herbst auf einem Ausfluge mit meinem dicken Farmer bekannt geworden und sein Begleiter auf dem Menschenmarkte gewesen.
Wir fuhren am ersten October nach einem substantionellen Frühstück von Thee, Eiern, gebratenem Speck, Wasserkresse, „Shrimps,“ starkem Porter, Käse, Rindskeule u. s. w. in seinem eigenen Wagen zwischen schattigen Bäumen, durch kosige, kleine Dörfer, wo blühende Rosenbäume sich auf den Dächern sonnten, vor einzelnen stattlichen Farms vorbei, aus denen uns neugierige Gänse angukten und das regelmäßige Geklapper von Dreschflegeln allein die Stille unterbrach direct nach Overtopping. Je näher wir kamen, desto dichter wurden die Vorzeichen des originellen Menschenmarktes. Gruppen von faulen, stämmigen Burschen, auf das Sorgfältigste angeputzt, obwohl in ihren Arbeits-Costümen, rufen uns gemüthlich ihr „good day“ zu, indem wir vorbei rollen. Einige dieser kleinen Caravanen zeichnen sich durch dieses, andere durch jenes Symbol aus. So trugen Einige Peitschenschnuren um ihre Hüte, womit sie sagen wollten, daß sie als Pflugknechte gekauft zu sein wünschten, Andere mit Strohkreuzen bieten sich als Fuhrknechte an. Zwischen ihnen lachen und schäkern rosenwangige Mädchen, und ihre frische Gesundheit und herzliche Art zu lachen hat etwas ungemein Wohlthuendes. Weiter hin ächzen einsame Trödler unter ihren Lasten, und versputete „Schaumänner“ mit rumpeligen Wagen und halbverhungerten Eseln ereifern sich furchtbar, die armen Thiere in Trapp zu bringen. Die Menschen- und Wagenzüge werden immer bunter und dichter, bis wir auf dem Gemeindeplatze am untern Ende der Stadt, dem wirklichen Mop, ankommen.
Vermöge eines alten, unergründlichen Herkommens findet hier also alle Jahre eine „lebendige Arbeits-Ausstellung“ statt, da vermöge eines eben so alten Herkommens die Arbeiter dieses noch am Ausschließlichsten Ackerbau treibenden Districtes sich in der Regel
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 235. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_235.jpg&oldid=- (Version vom 5.5.2023)