Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Zierlein an demselben Tage, an dem Katharina gestorben, einen gefährlichen Wilddieb erschossen hätten; die Behörde habe in ihm den verbrecherischen Fritz erkannt.
Der Baron von Beck blieb mit seiner jungen Gattin in Wien. Ein Jahr später stellte man ihm das Vermögen Amaliens zur Verfügung, da die Rechte des Vormundes als erloschen betrachtet wurden. Albrecht verschmähete es, den Grafen von Funcal weiter zu verfolgen. Der Tod Katharinens hatte eine Entscheidung der Kirche überflüssig gemacht.
„Hältst Du mich für strafbar?“ fragte Albrecht seine Gattin.
„Ich liebe Dich,“ flüsterte sie, „und ein liebendes Herz hat kein Urtheil! Gott selbst hat gerichtet!“
Am Fuße des Gebirges, am Ausgang eines seiner grünen, reizenden Thäler, liegt ein stattliches Dorf. Es ist Laubenhain mit vielen schönen weißen Häusern. Hinter dem Dorfe zieht sich ein mäßig hoher Berg mit prächtigen Obstpflanzungen hin, der Kindelberg genannt, und die kühlere Herbstsonne bestrahlt die gerötheten Aepfel und Birnen in der Fülle des gilbenden Laubes. – In diesem heitern Wetter wandert ein sehr einfach gekleideter Mann mit einem alten Ränzchen auf dem Rücken von der Landseite her dem Dorfe zu. Sein graues Haar und seine verwitterten Gesichtszüge verrathen den hohen Sechziger, wenn nicht gar schon den angehenden Siebenziger, aber das Gesicht zeigt einen edlen Schnitt, das Auge hat einen geistreichen, fast schwärmerischen Ausdruck. Der blaue Kittel und die graue Linnenhose sind rein, wenn auch ärmlich, eine leichte Mütze deckt den bedeutsamen Kopf. Er schreitet rüstig an seinem Knotenstocke. Aber dann und wann bleibt er stehen und betrachtet irgend einen an sich unbedeutenden Gegenstand mit großer Aufmerksamkeit und unverkennbarer Theilnahme, bald einen Baum, bald einen Stein, ein Gartenhäuschen, den durch die Wiesenflur sich schlängelnden Gebirgsbach. Sein Auge leuchtet dabei so wunderbar, über seine schmalen Lippen gleiten leise Worte wie Gebete. Er ist offenbar in großer Bewegung, und diese scheint zu steigen, je näher er dem Dorfe kommt, zu dessen Häusern und besonders zum Kirchthurme dann und wann sein Blick voll unaussprechlicher Wonne fliegt. So kommt er in das Dorf. Seine Aufregung ist so groß, daß er sich einige Minuten lang an eine Gartenplanke anlehnen muß. Dann geht er langsam weiter. Er schaut die Häuser an und grüßt in die Fenster. Die Bewohner danken ihm halb befremdet. Niemand kennt den freundlichen alten Mann. Als er am Forsthause vorüber geht, schleichen ein Paar große Thränen an seinen Wangen herab. Die hochgelegene Kirche grüßt er wieder, wehmüthig lächelnd, wie einen alten Freund und steigt dann zum Gottesacker empor. Da weilt er bald bei diesem, bald bei jenem der einfachen Grabmonumente und liest ihre Inschriften aufmerksam. Endlich findet er einen halbversunkenen mit Flechten überzogenen Grabstein, kniet daran nieder, faltet die Hände und betet. Und er geht weiter. Durch ein Hohlengäßchen gelangt er an den Kindelberg und ersteigt ihn. Das ist kein Fremdling im Dorfe, und wenn ihn auch Niemand kennt; er kennt dagegen alle Wege und Gelegenheiten. Von der Höhe des Bergs läßt er das thränenschwere Auge über das Dorf und die reizende Gegen schweifen.
„O Vaterland!“ ruft er in schmerzlich-froher Bewegung, „wie freu’ ich mich, daß ich dich wiedergefunden! Sei mir herzlich gegrüßt, du Stätte meiner Wiege! O Erde, auf der sie stand mit mir, nimm du auch meinen Sarg mit mir auf! Sieh, ich bringe mich dir wieder, dir, der ewig jungen Mutter, den alten Knaben, den ungetreuen und doch so getreuen Sohn, der weite Länder und Meere durchirrte und doch zuletzt zu dir zurückkehrt, um bei dir zu schlafen, auszuschlafen und zu rasten von der wüsten Sorge und der heißen Arbeit, die man Leben nennt!“
Nun suchte er mit geschärftem Auge und großer Aufmerksamkeit unter den Obstbäumen. Fleißig forschte er an der Rinde derselben. Endlich rief er im Tone der höchsten Freude:
„Gefunden! Du bist’s! Ja, du bist’s, mein lieber theurer Apfelbaum!“ Und er umarmte den Baum, wie einen geliebten Menschen und küßte ihn auf die glatte Schale, herzlich, innig, brünstig. „Du kennst mich noch, nicht wahr, mein Baum? Du bist ja mein Kindelbaum! Dich hab’ ich gepflanzt, als ich der Dorfschule entlassen und dort unten in der Kirche in den Christenbund aufgenommen wurde. Ach, das war eine schöne Zeit! Da war ich ein hübscher Knabe von dreizehn Jahren und du ein nettes Stämmchen von drei bis vier Jahren. O, ich sehe dich noch, wie dich der Vater heimbrachte, und du von der Schwester zum Kindelfeste mit einem Blumenkranze geschmückt wurdest. Ich grub mit Hacke und Schaufel die Grube für dich, ich setzte dich hinein, ich warf die Erde auf deine Wurzeln; ich begoß sie jeden Tag. Und welch ein stattlicher Baum bist du geworden! Dir sieht man kein Alter an wie mir! Ha und welch köstliche Früchte trägst du! Ich weiß, ich weiß, es war die beste Sorte, welche aufzutreiben war. Beutst du sie mir doch herab wie zum Danke. Recht so! Recht so, alter Freund! Meine Früchte sind schon längst abgefallen.“
Er pflückte einen der schönen Aepfel und biß hinein.
„O, wie labst du mich!“ jauchzte er. „Sieh, ich habe nicht vergebens gelebt; denn ich habe dich gepflanzt.“
Plötzlich fühlte er sich am Arme gefaßt und barsch angeredet.:
„Er hat hier einen Apfel gestohlen und muß mit mir zum Schulzen; denn ich kenne Ihn nicht, und Stehlen wird hier bestraft. Weiß Er das nicht?“
Es war das hämische Gesicht eines Bauers, das ihn so begrüßte.
„Wer ist Er denn, mein Freund, daß Er sich erlauben darf, mich des Diebstahls zu bezüchtigen?“
„Der Teufel ist Sein Freund, aber ich nicht. Er ist ein Vagabund, und ich bin Schütz und Gemeindeschöpf und königlicher Kreiser und Waldwart dazu. Er hat mich „Sie“ zu nennen, weiß Er das! Marsch mit mir zum Schulzen! Ich hab’ Ihn auf der Mauserei erwischt, Er hat ja den gestohlenen Apfel noch in der Hand.“
Der alte Mann widersetzte sich nicht; er folgte dem strengen Schützen, Gemeindeschöpfen und königlichen Waldwart mit einem wehmüthig bittern Lächeln.
War der Schöpf schon eine unangenehme Persönlichkeit, so war der Schulz eine höchst widerwärtige, eine aufgeblasene Figur, ein dummstolzes, hochrothes Gesicht mit einer affectirten Würde, das Ganze die lächerliche Karrikatur eines gewiegten und sich seiner Wichtigkeit bewußten Bureaukraten.
Der Delinquent wurde vorgeführt, nachdem der Schöpf seinen Bericht abgestattet hatte.
„Wer ist Er? Wie heißt Er?“ schnaubte ihn der Schulz an.
„Ich heiße Philipp Raab und bin aus dem hiesigen Orte gebürtig. Mein Vater war vor fünfzig Jahren hier Förster und ich sein einziger Sohn. Ich habe in Südamerika gelebt und bin hierher gekommen, um hier meine Tage zu beschließen.“
Der Schulz und der Schöpf sahen den Sprecher mit großen Augen an.
„Ach, Er ist der Försters-Flipp!“ rief der Erstere, „von dem meine Mutter selige oft erzählte. Das ganze Dorf hat viele Jahre von seinen verwegenen Streichen gesprochen. Er ist ein wahrer Ausbund und Taugenichts gewesen, sogar Verse hat er gemacht und Seine Mutter, die Ihn verzogen, todt geärgert.“
Der Alte nickte wehmüthig, als sei das Alles wahr, und doch lag in seinem Auge, in seinen Zügen Etwas, das besagte: es sei das in einem Sinne, von welchem dieser gar keine Ahnung haben könne.
„Na, wie man sieht, hat Er’s so fort getrieben sein Leben lang und nichts vor sich gebracht. Als ein junger Bettler ist Er gegangen und als ein alter Bettler wieder gekommen, der der Gemeinde die Aepfel stiehlt.“
„Der Baum, von welchem ich den Apfel pflückte, ist mein Kindelbaum. Ich weiß nicht, ob der Gebrauch noch besteht. Sonst pflanzte jedes Kind an seinem Confirmationstage einen Baum am Kindelberge. Jenen Baum habe ich gepflanzt und in seine Rinde meine Namensschiffer geschnitten.“
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 231. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_231.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)