Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Fragen thut und Antworten zu einem Aktenstücke sammelt, dessen Umfang das beste Mittel sein wird, es gegen Leser zu schützen. Und am Ende glaubt auch der höhere Engländer nicht an den Ernst, an den Erfolg dieser Posse. Posse? Ja, so erschien sie mir. Sind die Herren Richter? Haben sie Gewalt über Schuld und Unschuld, Leben und Tod? Nein, die schwärzesten Schuldigen, bis jetzt besonders Kapitain Christie[WS 1] und Admiral Boxer (der in Constantinopel vierzehn Tage lang ein mit Proviant für die Verhungernden beladenes Schiff erst anstreichen und trocknen ließ) begnügen sich mit der Strafe der „öffentlichen Meinung“. Als Posse, als Humbug erschien mir die Untersuchung, weil sich’s die Herren gar zu bequem machten und fragend und antwortend über die Schuld an 50,000 Todten und 50 Millionen Pfund Sterling gelegentlich kaueten und schluckten. Neben dem Haupthelden der Inquirenten – Mr. Layard – saß ein Mitglied der Commission, welches einen halben Sandwich (belegtes Butterbrot) im Munde, eine Frage that, dann einen derben Schluck Sherry nahm und wieder fragte. Der Herzog von Cambridge wartete wenigstens, bis er seine Aussage beendet hatte. Erst dann rief er nach einem Kellner, bestellte sich Sandwichs und Sherry, fragte ziemlich laut „How much?“ (wie viel?), bezahlte, stellte seine gekreuzten Beine auf das Tischgestell unten, aß und trank und hörte den weitern Fragen und Antworten zu.
Seine Aussagen hatten übrigens, im Vergleich zu andern, nichts besonders Interessantes. Um so imponirender ist seine Persönlichkeit. Ein riesiger Mann, bärtig, stolz, breitbrustig, kahlköpfig, so saß er dem kleinen, kränklichen, dünnstimmigen Präsidenten der Commision – Mr. Roebuck – gegenüber. Das volle, energische Gesicht neben Roebuck gehört dem berühmten Layard, dem Niniveh-Ausgraber, jetzt Mitgliede des Ministeriums, dem Premier einer bessern oder schlimmern Zeit – denn er ist der einzige Mann, von dem man sicher eine energische, hohe Zukunft erwartet. – Die Namen der andern Mitglieder habe ich zum Theil vergessen, zum Theil wurden sie doch nur genannt, um sofort wieder vergessen zu werden. Photographie, Stenographie, Malerei, Typographie – alle diese Künste der Oeffentlichkeit umgaben den Halbmond des grünen Tisches in großer Fülle und ohne die geringste Beschränkung. Die hieroglyphischen Blätter der Stenographen wanderten unaufhörlich über die Schultern der eifrig das lebendige Wort Auffangenden hinaus in Vorzimmer, wo eine Menge Uebersetzer aus dem Stenographischen in Currentschrift den Boten in die Hände arbeiteten, welche unten in Droschken nach den Druckereilokalen der Zeitungen eilten. Weiter hinten in der Ecke wartete ein Photograph auf malerische, stille Momente und zog dann seine Klappe auf, so daß die dunkele Oeffnung des photographischen Apparates wie eine Kanonenmündung herab drohte, sich aber nach ein paar Secunden immer wieder schloß. Hier machte sich ein Zuhörer Bemerkungen mit dem Bleistifte, dort versuchte ein Maler die Züge des bärtigen Riesen im Hintergrunde (ich glaube des von Birmingham gewählten Parlaments-Mitgliedes Muntz) zu stehlen und Geld daraus zu schlagen.
Ein schäbig-gentiles Subject schälte sich eine Apfelsine, biß hinein und verfolgte die Verhandlung mit großen Augen, bald Zeichen des Beifalls, bald grunzende Töne der Unzufriedenheit durch die gekauete Apfelsine von sich stoßend. Crethi und Plethi lahtschte aus und ein, darunter manch’ düsteres, sorgenverzerrtes Gesicht „ohne Geburt und Connexionen,“ feine Damen und breitschulterige Weiber von der Straße – fast alle im tiefsten Schwarz und mit gespannten Zügen horchend, ob diese oder jene Aussage einen Schluß auf den hingeopferten Sohn, Bruder, Bräutigam oder Ehemann zulasse, auch nicht wenige nichtssagende Gesichter, die blos aus Langeweile gekommen zu sein schienen, „um sich zu amüsiren,“ da sie immer am Lautesten hear! hear! (hört! hört!) riefen und lachten, wenn eine pikante Bemerkung fiel oder ein unglaublicher Unsinn speciell erörtert ward.
Die Zeugen traten alle in die Mitte des Tisch-Halbmondes, um welche die zehn Mitglieder der Commission sitzen, wenn sie alle da sind, was selten der Fall zu sein schien. Die Hinterwand des Saales, dem Publikum gegenüber, enthält eichene Schränke, deren jedes Mitglied einen für seinen ausschließlichen Gebrauch benutzt. Die beiden Thüren öffnen sich nach Corridoren, die unmittelbar in den Sitzungssaal des Unterhauses führen, von wo denn auch fortwährend bekannte Persönlichkeiten, wie man im Publikum deutlich bemerkt, erscheinen, um bald nach kürzerer, bald nach längerer Zeit wieder zu verschwinden und Andern Platz zu machen.
Ich sagte, die Zeugen treten in die Mitte des Tisch-Halbmondes, obwohl der Herzog von Cambridge ganz bequem mitten unter den Mitgliedern der Commission selbst sitzt. Mit ihm machte man dieselbe Ausnahme, wie mit einigen andern Personen höchsten Ranges. In der That nahm er sich ohne Weiteres die Freiheit, sich mitten unter die Herren zu setzen und sie mehr zu belehren, als sich fragen zu lassen. Er sah auch gar nicht darnach aus, sich vom berüchtigten General „Routine,“ der an allem Unheil Schuld ist, etwas vorschreiben zu lassen. Wie leicht hätte er seinen dicken Rohrstock mit dem goldenen Haken nehmen können, um seinen Kopf durchzusetzen? Warum war er überhaupt hier und nicht Chef-Commandeur der Garde-Division geblieben? Die Leute munkeln schreckliche Geschichten, die man durch eine andere Munkelei, nämlich daß er Spuren von Geisteskrankheit (allerdings erblich öfter in seiner Familie hervorgetreten) zu vertuschen sucht. Er soll einem höhern Offizier, der sich gar zu bornirt nach dem General „Routine“ richtete, etwas versetzt und selbst Lord Raglan bedroht haben. So viel Wahrscheinliches dies auch in einem energischen Kopfe, gerade weil er nicht an der allgemeinen ausgebrochenen Geisteskrankheit des englischen Regierungsunwesens litt, haben mag, wollen wir es doch blos als ganz dunkele Munkelei beiläufig mit erwähnt haben.
Das Auftreten des Herzogs hatte eine allgemeine Spannung hervorgerufen. Man sah überall den Ausdruck der Enttäuschung, als er geendet. Was er sprach, klang sehr einfach, sah verständig, schonend und doch auch derb und ehrlich. Vieles war technisch und strategisch, wie es für die zuhörenden Laien kaum verständlich war. Nachdem er seine Mittheilungen geendet, erhoben sich alle Mitglieder der Commission, und Roebuck dankte ihm im Namen derselben und des Parlaments. Sie schienen ihn damit entlassen zu wollen.
„O, bitte, erlauben Sie mir, daß ich noch etwas bleibe,“ unterbrach er den Redner. „Ich gehe noch nicht, werde mir aber –“ und damit winkte er dem Kellner und ließ sich einen Teller von Sandwichs und ein Glas Sherry bringen, wie ein deutscher Baron vom Rittergute in einem öffentlichen Trinklokale.
Mit dem Typus eines höhern, deutschen Landedelmanns hat er auch viel Ähnlichkeit. Sein Bart wäre vor fünf bis sechs Jahren noch der Skandal des ganzen Landes, rein unmöglich gewesen. Jetzt giebt’s Parlamentsmitglieder, deren Gesicht man vor Bart nicht sehen kann, so daß sie aussehen, wie zurückgekehrte Krim-Soldaten. Der freie Bartwuchs ist in England von ganz neuem Datum und wurzelt in der großen Völkerausstellung, der Freundschaft mit den Franzosen, der Krim und dem Kriege und auch in einem neuen Volksgefühle, in einem Hasse gegen die Vergangenheit, die sich in England nirgends anders als sorgfältig rasirt und mit starrendem Backenbarte zeigen konnte. Der Backenbart, der war der Stolz, die National-Kokarde Englands. Später sprach ein Blatt das berühmte Wort aus: „Englishman, the whiskered slave of money-making“ („Engländer, backenbärtiger Sclave der Geldmacherei“). Seit dieser Zeit fingen Haare an, auf den Zähnen zu wachsen. Es folgte eine seit Jahren komisch behandelte Agitation für den Bart, den Schnauz- und Kinnbart. Sie sproßt jetzt überall. Sie kehrt in Wäldern von der Krim zurück. Und so mag vielleicht dieses äußere Zeichen rückkehrenden Männlichkeitsgefühls auch einen innern Boden haben. Und je mehr sich die Krim-Untersuchung als Posse entwickeln sollte, desto ernster dürfte die Befürchtung werden, daß ernste, düstere, bartumwaldete Männer eine Tragödie sehen wollen, die erschüttert, erhebt und reinigt. Doch soll dies keine Prophezeiung sein, sondern blos Schluß meiner Stunde in der Krim-Untersuchungs-Commission.
Anmerkungen (Wikisource)
- ↑ Peter Christie (1796–1855), Vorlage: Christin
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 198. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_198.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)