Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Brustkastens und der Lunge zu streben und hierzu dienen passende Turnübungen (mit den Armen), lautes Vorlesen, Declamiren und Singen oder Blasen eines Instrumentes; auch läßt sich dies dadurch bewerkstelligen, daß man nach tiefem Einathmen langsam durch ein feines Röhrchen ausathmet. Alle diese Ausdehnungsversuche müssen aber mit großer Vorsicht und Einschränkung geschehen. – Der widernatürlichen Anhäufung von Blut in den Lungengefäßen läßt sich dadurch entgehen, daß man Alles sorgfältig vermeidet, was Herzklopfen und sehr beschleunigtes Athmen macht, daß man sich vor erhitzenden Anstrengungen und katarrherzeugenden Erkältungen (besonders der Füße und des Rückens) durch Flanell und Wolle schützt, und daß man stärkere Erschütterungen des Brustkastens zu verhüten sucht. – In Betreff der Ruhe ist zu erwähnen, daß jedes körperliche und geistige Thätigsein Brustkranker nur ganz mäßig geschehen muß und daß Excesse in dieser, sowie in gemüthlicher und geschlechtlicher Hinsicht großen Nachtheil bringen. – Thierische Nahrung, aber mit ziemlichem Fett- und Salzgehalte, scheint am meisten zuzusagen; obenan steht natürlich die Milch. Von Getränken entsage man sich aller, welche Herzklopfen und Hitze erzeugen. – Fängt ein Brustkranker wieder an, fleischiger zu werden und wohler auszusehen, dann kann er zwar an allmäliges Abhärten seines Körpers (durch kalte Bäder, Turnen, leichtere Kleidung) denken, darf dies aber doch immer nur mäßig treiben. Uebrigens thut es allen Brustkranken gut, während des Sommers einige Zeit in eine gemüthliche, gegen Nord- und Ostwinde geschützte Gegend zu ziehen und neben Ruhe noch Milch (oder Molken) und Luft zu genießen. In ein Bad, wo man nur abgemagerte, hohläugige Brustkranke sieht, und außerdem doch blos ein schwaches Salzwasser trinkt (wie in Ems und Salzbrunnen) würde Verf. niemals einen Schwindsuchtscandidaten schicken.
Deutschland hat seine historischen Erinnerungen an fünfzig- und hundertfache Staats- und Hochverraths-Riesen-Prozesse, wo es sich um Leben und Tod allgemein bekannter, hervorragender Persönlichkeiten handelte; die ältesten Leute in England können sich solcher Erinnerungen nicht rühmen. Die Zeiten, als die Bastille des englischen Absolutismus, der Tower, Minister und Prinzen und Prinzessinnen, Könige und Königinnen verschwinden ließ, die Schrecken des Staatsgerichtshofes, der Stern-Kammer, gehören der verwesten Vergangenheit an. Wie mußte es daher das gegenwärtige Geschlecht aufregen und anziehen, eine öffentliche Untersuchung der Krim- und Kriegsverwaltungs-Helden im Unterhause glänzend siegen und verwirklicht zu sehen und nun aus dem Munde von Generalen, Herzögen, Lords und höchsten Offizieren, von Autoritäten und Augenzeugen das ganze entsetzliche Drama, welches 50,000 Soldaten und 50 Millionen Pfund Sterling, alle englischen, stolzen Hoffnungen, allen nationalen, althistorischen Heiligenschein in Schmutz und Tod hinabtrat, Punkt für Punkt, Schuld für Schuld enthüllt zu sehen und zu hören! –
Die Untersuchung gewann noch an besonderer Wichtigkeit, da es sich um eine Entscheidung zwischen dem Ministerium Aberdeen und der Presse handelte. Ersteres behauptete aus offizieller Untrüglichkeit, letztere habe übertrieben, ja gelogen. Es sei Alles in Ordnung. Gleich von vorn herein ergab sich nun, daß die Presse bereits Alles haarklein und genau erfahren und veröffentlicht habe, was die Autoritäten und Augenzeugen nun vor dem Parlamente wiederholen und bekräftigen. Die bis jetzt (den 25. März) gestellten und beantworteten 9000 Fragen enthalten daher im Wesentlichen nichts Neues, nur daß hier und da eine Anekdote, ein im Winkel versteckt gewesenes kleines Ungethüm von Thatsache das Entsetzliche noch furchtbarer, den Blödsinn zu Wahnsinn, das Lächerliche noch lächerlicher, das Unglaubliche noch wahrer und wirklicher macht. Hospitäler, vollgepropft mit entstellten, zerrissenen, sterbenden, todten, vor Schmerz, vor Hunger, vor Ungeziefer, vor Gestank aufschreiender Soldaten – eine mitleidige Seele, die 200 Pfund bietet, um ein solches Hospital reinigen zu lassen, nachdem man sich damit entschuldigt, daß kein Geld zum Reinigen da sei. Der betreffende Offizier verweigert die Annahme des Geldes, weil er fürchtet, man könne es von ihm zurückverlangen. Die Soldaten laufen tausendweise barfuß und mit erfrornen und verwundeten Füßen durch Schnee und Eis, und sterben hundertweise. Lord Raglan sieht das eine Zeit lang mit an. Endlich schickt er einen Bevollmächtigten nach Constantinopel, Schuhe zu kaufen. Der Bevollmächtigte ist so glücklich, grade ein nach Konstantinopel abgehendes Schiff zu treffen. Er theilt dem Kapitain des Schiffes unter dem Siegel der Verschwiegenheit mit, daß er alle Schuhe in Constantinopel für die Armee aufkaufen solle. Der Kapitain schlägt die Hände über dem Kopfe zusammen und sagt, daß er drei Wochen lang im Hafen von Balaklava versucht habe, sein mit Schuhen für die Armee ganz beladenes Schiff an den Mann zu bringen, und seine Ladung los zu werden. Von allen Seiten habe man die Annahme verweigert, da er keinen gehörig formulirten Frachtbrief vorzuzeigen im Stande gewesen. Jetzt gehe er eben zurück nach Constantinopel. Nach dieser Entdeckung läßt denn der Schuh-Gesandte den Schnabel des Schiffes wieder gen Balaklava richten. Nun werden die Schuhe sofort angenommen, da sie der Schuh-Bevollmächtigte bringt. Doch schlimmer ging’s einem Kartoffel-Gesandten. Er brachte, wie ihm befohlen war, ein Schiff voll Kartoffeln nach dem Hafen. Wochen lang versuchte er und Andere, den Mächtigen auszukundschaften, der allein berechtigt war, die Kartoffeln in Empfang zu nehmen. Vergebens. Da ergrimmt endlich der Kapitain und ruft sich Griechen, Tartaren, Armenier, Juden und Schacherer, Familien und Privatpersonen heran mit der Bitte, sie möchten so viel Kartoffeln nehmen, als sie nur immer fortbringen könnten. So bekommt er sein Schiff bald leer, und die englischen Soldaten, die nach Balaklava kommen, um sich aus ihrer Tasche Proviant zu kaufen, triumphiren nun mit vollen Kartoffelsäcken in’s Lager zurück. Zuletzt wurden sie, das Stück zu 1 Schilling – 10 Sgr. – eine Kartoffel – an die reichsten englischen Offiziere verkauft.
Mitten im massenhaften Hinsterben der Soldaten an Unverdaulichkeit und Durchfall kam eine medicinische Autorität auf den Gedanken, die Soldaten müßten Vegetabilien, Gemüse haben. Nach vielen Wochen ist ein Schiff mit Mohrrüben, Kohl, Rüben u. s. w. im Hafen und wird ausgeladen. Aber auch jetzt kann der Mann, welcher sie zu verkaufen, zu vertheilen hat, trotz unendlichen Suchens nicht ermittelt werden. Der Gemüsehaufen wird breit, in Schnee und Schmutz getreten und fängt an zu faulen und den Schmutz noch unerträglicher zu machen. Die Garde-Division unterm Herzog von Cambridge fällt vor Hunger vom Pferde, die Pferde fallen aus demselben Grunde, nachdem sie versucht haben, sich gegenseitig die Schwänze abzufressen. – Die Ordre des Herzogs von Cambridge um Futter und Lebensmittel hat deshalb große Eile und ist ohnehin im höchsten Grimme geschrieben. Im höchsten Grimme hat der Herzog seinen Namen auf eine Stelle der Ordre gesetzt, wo sie nach der „Routine“ nicht hingehört. Er bekommt also sein Schreiben mit der höflichen Bitte zurück, den Namen gefälligst ein Paar Zoll tiefer zu setzen. Ordnung muß sein, obgleich sie in diesem Falle direkt das Leben von ein Paar Dutzend Pferden kostete. Also kein Wunder, daß die englische Cavallerie, so weit davon noch die Rede sein konnte, besonders daran zu erkennen war, daß Niemand auf einem Pferde saß.
Letztere Geschichte hörte ich am 13. März aus dem Munde des Herzogs von Cambridge selbst. An diesem Tage war ich zum ersten Male in dem Untersuchungslokale. Als ich in den Irrgängen des neuen Parlamentsgebäudes endlich auf den rechten Weg und vor die rechte Thür, einem Seiten-Saale der Sitzungs-Halle des Unterhauses gekommen war, fiel mir zuerst das dünne Kommen und Gehen von Neugierigen auf. Ich hatte mich auf stundenlanges Warten und rippenzerbrechendes Gedränge gefaßt gemacht. Man weiß ja schon Alles, dacht’ ich. Man liest es bequemer in den Zeitungen. Jeder hat sein Geschäft von 12 bis 4 Uhr, grade während der drängendsten Arbeitszeit, während welcher die Commission
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_197.jpg&oldid=- (Version vom 13.5.2018)