Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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den Anblick eines großen See‘s, auf dem Segelfahrzeuge kreuzten, um Menschen und Vieh zu retten.
Gegen Abend am Neujahrstage hatte die Fluth eine solche Höhe erreicht, daß die Häuser an der Außenseite des Deichs, der das Kirchspiel Kirchwärder (Vierlanden) im Norden begrenzt, drei bis vier Fuß hoch unter Wasser standen. Und stets trieb der unausgesetzt tosende Sturm neue Wassermassen heran. Mit übermenschlicher Anstrengung suchten die armen Landleute dem brausenden Strome den Weg zu ihren Feldern und Wohnungen zu versperren, als aber die Fluth in einer Ausdehnung von drei Stunden zwei Fuß hoch über den Damm drang und von der innern Seite große Stücke losriß, mußten sie von der mühseligen Arbeit abstehen und ruhig zusehen, wie das Element fessellos sich über die Felder ergoß und in die Häuser drang. Angst und Besorgnis um Familie, Habe und Gut erfaßt nun die armen Landleute, die vergebens Stunden lang im eiskalten Wasser gearbeitet hatten. Immer weiter dehnt sich die blinkende Fläche aus, und ein Strauch verschwindet nach dem andern. Da endlich blitzt ein Hoffnungsstrahl durch die Nacht der Noth und die angsterfüllten Herzen der Landleute schlagen ruhiger. Die Ebbe ist eingetreten, der Strom wälzt sich abwärts dem Sturme entgegen, der wüthend den Wellen die weißen Schaumkämme abreißt und sie als Gischtwolken mit Hagel gemischt gegen die Deiche und ihre Vertheidiger treibt. Sturm und Strom beginnen einen heftigen Kampf, aus dem der Letztere siegreich hervorgeht. Die Wasserfläche sinkt, und bald wird die Kappe des Deichs wieder sichtbar. Die ermüdeten Arbeiter kehren in ihre Häuser zurück, um auszuruhen.
Es sollte diese Ruhe nicht von langer Dauer sein. Die Ebbe, die hier gewöhnlich acht Stunden anhält, wurde schon nach kurzer Zeit von der wiederkehrenden Fluth unterbrochen. Neue Wassermassen wälzten sich gegen die Dämme und überschütteten sie mit gewaltigen Sturzwogen, die unaufhaltsam über die Wehr hinwegdonnerten und die Grundvesten derselben erschütterten. An der Nordseite, bei Seefelde, wankte der Damm an zwei Stellen. Tief an dem Fuße desselben entstanden kleine Quellen, welche, die Erde aufreißend, schnell zu Bächen wurden. Die armen Bewohner suchten sich nun durch die Flucht zu retten. Und es war die höchste Zeit, denn plötzlich ward ein Stück des Deichs, 150 Fuß lang und 16 Fuß hoch, emporgehoben, und im nächsten Augenblicke hatte sich ein heulender und donnernder Wasserfall gebildet, der mit einer so furchtbaren Gewalt in das niedere Land stürzte, daß er ein neu errichtetes Bautenhaus, dessen Bewohner nur das nackte Leben retten konnten, buchstäblich in Stücke zerriß und mit sich fortwälzte. Bald folgte ein zweiter Durchbruch des Deichs, und das ganze Binnenland von Kirchwärder ward unter Wasser gesetzt. Die Einwohner konnten nur noch auf den Böden ihrer Häuser Zuflucht finden, denn in den untern Räumen herrschte die Fluth, Geräth und Vorrath zerstörend.
Als ob ein Arm der Elbe den andern bei seinem Zerstörungswerke unterstützen wollte, so durchbrach er den südlichen Deich, der sich in der Ausdehnung von einer halben Stunde von dem hamburger Gebiete bis zur worwischen Bucht erstreckt, an neun Stellen. Durch den äußersten Bruch von ungefähr 200 Fuß Länge ward ein großes Bauerhaus umgestürzt. Der Insasse, Landmann Grell, fand mit seinen drei Kindern den Tod. Seiner Gattin gelang es, mit dem jüngsten Kinde den Damm zu erreichen. Da stand nun die arme Frau auf einem trockenen Plätzchen, umtost von der kalten, schäumenden Fluth, und sah bei dem falben Scheine des Mondes, der wie höhnend die Schreckenscene beleuchtete, ihren Gatten, ihre Kinder, Haus und Hof im Wogenschwall versinken.
In einem andern Hause, das die Fluth zerstörte, ward der kranke Sohn und sein kleines Schwesterchen im Bette begraben. Die Mutter und die ältere Tochter flüchteten sich auf einen Baum, von wo aus sie den Hülferuf durch die Nacht erschallen ließen. Man hörte sie und bemerkte den Ort der Gefahr; aber die herbeieilenden Rettungsboote vermochten den Strudel nicht zu durchschneiden, und die Armen sanken erstarrt in das kalte Wassergrab.
An einer anderen Stelle des Deichs riß das Wasser die Kappe desselben, d. h. den obern Theil, zu beiden Seiten des Hauses hinweg, das oben darauf stand. Wie auf einer kleinen Insel fußend, ragte das Gebäude unversehrt aus dem See empor.
Auf dem Dachfirste eines zertrümmerten Hauses barg sich die Tochter des Besitzers drei und eine halbe Stunde lang, stets in Gefahr schwebend, von dem gewaltigen Sturme in das rauschende
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_168.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)