Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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Den furchtbarsten Eindruck macht das absolute Schweigen in der Anstalt. Die Gefangenen schlafen nicht alle in Isolirzellen; so haben die Gefängnißstrafe Verbüßenden meistens Doppelzellen, in denen mehrere zusammen Quartier finden; so sind auch in den Stationen für die Züchtlinge einzelne Zellen für mehrere Personen, ja in der alten Anstalt liegen sie in Schlafsälen zu Hunderten. Aber auch hier ist das Schweigen Gebot, hier wie auf der Promenade im Hofe, zu der sie in Reihen von den Aufsehern geführt werden. Wenn die Straftheorien vor der menschlichen Vernunft sämmtlich unhaltbar erscheinen, wenn die Nothwehr der letzte Nothbehelf für ihre Erklärung ist, dann mag sich die Gesellschaft das Recht anmaßen, das Individuum gewaltsam erziehen zu wollen – wir müssen es entschuldigen. Es ist aber nicht abzusehen, wie gerade die Unterdrückung des Gefühls in dem Verbot jeder Mittheilung, wie diese Vereinsamung des Herzens einen versittlichenden Eindruck machen kann. Sind denn diese Menschen alle gleich schlecht? Verdient nicht derjenige, der in der Raserei, der Leidenschaft eine böse That beging, eine andere Behandlung, als der ergraute Züchtling, der in der Gewohnheit des Lasters sündigt und seinen Wohnsitz wechselnd nur in den Spelunken des Verbrechens und in den Mauern der Buße aufschlägt. Muß der erste Schritt auf der Bahn des Verbrechens eben dahin führen, wo die Laufbahn des Unverbesserlichen endet? Bereut nicht der Eine, wo der Andere höhnt? Warum, wenn man die Ansteckung des Lasters vermeiden zu müssen glaubt, warum classifizirt man nicht lieber, statt diese mannigfaltigen, so eigenthümlichen, halb verkrüppelten, knorrigen Gemüther wie die Front eines Regiments durch das Commandowort „Still gestanden!“ zu dressiren? Mag es gut sein, ein Gemüth, auf das man einwirken will, erst zu erschüttern, seinen Trotz zu bändigen, es durch das Gebot zu schweigen in die schreckliche Stille seines eignen Innern zu bannen. Aber, wenn die Stunde der Reue geschlagen hat, wo Mund und Herz immer noch unter unlösbaren Fesseln schmachten, wo die Mittheilung fehlt und der Seufzer an fühllosen Mauern verhallt, führt das Schweigen zu einem finstern, feindseligen Brüten des Herzens und die Stunde der Freiheit naht nicht allmälig wie die Stunde der Versöhnung mit der Gesellschaft, sie wird mit Zähneknirschen erwartet und mit einem Fluch gegen die strafende Menschheit begrüßt. Ach, in diesen Anstalten muß die Feindseligkeit gegen die Gesellschaft wie ein Wurm in dem Herzen geboren werden, der nur mit seinem letzten Schlage endet! Der unbeugsame Zwang, der sich nicht in einer gerechten, psychologischen Abstufung mildert, der keine Hoffnung läßt und kein Vertrauen gestattet, vernichtet das letzte Gleichgewicht der Seelenkräfte. Und wenn in diesen Mauern ein Mann von Beruf wirkt, wenn er persönliches Vertrauen erwirbt, die Instruktion ist das schneidende Schwert, das die angeknüpften Beziehungen des Gemüthes mit einem Schlage wieder vernichtet.
Fragt den Seelsorger, der jeden Gefangenen beim Eintritt in die Zelle begrüßt und ermahnt, der ihn allsonntäglich mit der Gewalt des einfachen menschlichen Gefühls zu der Göttlichkeit seiner Natur zu erheben sucht, fragt ihn, wenn er nicht die Gnade im Munde, die Lieblosigkeit im Herzen, und die Verblendung im Auge trägt, fragt ihn, was sein Zuspruch fruchtet, wie viele Gemüther er der Tugend erschlossen, wie viele Herzen er der Verfinsterung entrissen hat und er wird mit einem betrübten Achselzucken antworten.
Ich wohnte einem Gottesdienste in der Kapelle bei; sie liegt in einem Thurme, zu dem eine beschwerliche Treppe hinaufführt. Ein schönerer Sonntagsmorgen läßt sich nicht leicht denken; ich mußte während des Gesanges die Augen durch die Chorfenster richten und den Tag vor mir mit den Blicken eines entzückten Kindes anschauen. Es war Alles so schön in der Welt und ich zitterte, in das Menschenantlitz zu sehen, in das die Spuren des Häßlichen so tief eingeschnitten sind. Die Klänge der Orgel hallten so rein, melodisch und weich und mir war es zu Sinne, als ob da unten in der Kapelle ein Traueramt um die Menschheit gehalten wurde, die einige hundert Opfer als Sühne für ihre Verirrungen bot. Aus einer Menschenbrust kamen die Worte des katholischen Priesters, ohne oratorischen Pomp, ohne mystische Phrasen, ohne den drohenden Groll sittlicher Ueberhebung. Aber in ihrer Schmucklosigkeit glühte und strahlte der Schmuck eines milden, warmen Herzens und die sanfte Trauer eines aufrichtigen Gemüthes. Wohl war der Eine oder der Andere, dessen Antlitz bewegt war, hier und da strömte eine Thräne aus dem Auge eines Weibes. Aber die Masse saß starr und gleichgültig, kalt und theilnahmlos da und beobachtete nur das Ceremonielle des Ritus. Und wären sie Alle tief ergriffen gewesen, was hilft es, in einer Sonntagsstunde das Gefühl zu wecken, das in vielen Werkeltagsstunden zum Schweigen erdrückt wird, die Menschenwürde aufzurichten über der im Namen der Disciplin die Peitsche schwebt?! Mancherlei Gedanken bestürmten mich; einer rief dem andern zu: rette sich, wer kann – aus diesem Chaos der Zustände, wo die Macht des Guten unter dem Dämon des Bösen steht und einen zweifelhaften Werth hat.
Von gewisser Seite her ist wiederholt ausgesprochen worden, daß die Beamten eines Gefängnisses dem Dienste einer innern Mission nicht fremd bleiben und in dieser Richtung geschult werden müßten. Von Herzen stimmen wir ein, wenn an die Stelle des militärischen Zwanges der Beruf eines rein und edel gestimmten Gemüthes gesetzt wird, wenn es möglich ist, in den Herzen der Schließer und den Paragraphen der Gefängnißordnung den versöhnenden Geist der wahren Humanität heimisch zu machen. Ist das die innere Mission, so rufen wir ein freudiges „Amen!“
Und dieses Vertrauen wirkt! Lehrreich ist das Experiment gewesen, die Gefangenen im Freien zu beschäftigen. Hunderte haben, wie wir später hören, in jenen schlimmen Catastrophen, die über Schlesien hereinbrachen, hülfreiche Hand geleistet, ohne militärische Escorte, von wenigen Aufsehern bewacht und in einer Scheune bequartirt, ohne daß eine Störung der gewiß mühsam zu handhabenden Ordnung vorgefallen wäre. Weitere Anträge liegen den Kammern bereits vor, dieses System fortzubilden und den jähen Uebergang aus dem erdrückenden Zwange in die Freiheit zu erleichtern. Es läßt sich kein Lob mehr dafür ersinnen.
Der Sonntag gehört dem Gefangenen; er kann ihn mit Nachdenken zubringen, er kann den Vorlesungen zuhören, die begreiflicher Weise nur religiöse Erbauungsschriften berühren. Als Vergünstigung wird ein Besuch der Angehörigen in dem Sprachzimmer unter Aufsicht eines Beamten erlaubt. Welche Scenen mögen da vorkommen! Man kann nur eine schmerzliche Ahnung davon bekommen, wenn man das Gesuch der Angehörigen, eines Kindes, einer Mutter, eines Vaters, eines Weibes oder eines Gatten um eine Unterredung hört. Das Strafregister entscheidet, wenn nicht eine Thräne den Ausschlag über seine Bedenken giebt.
Wir machen einen Besuch in der Schule der Anstalt. Wie wird es gelingen, die jungen Sprößlinge, die auf dem Stamme des Elends und des Verbrechens gewachsen sind, zu biegen und zu ziehen? Wenn man sich das fröhliche Getümmel der Schuljugend in einer Zwischenpause oder nach dem Schlusse der Lectionen vorstellt, die frischen Wangen und die bunte Tracht mit diesen blassen Gesichtern und dieser einförmigen Kleidung vergleicht, dann schleicht eine zwiefache Trauer in die Seele – um die Knaben, die in der Verwahrlosung erzogen wurden, um die Kinder, deren Jugend mit einer so schrecklichen Erfahrung belastet wird. Es sind hübsche Schelme unter den Kindern und gewiß manche Talente; sie erhalten den gewöhnlichen Elementarunterricht, und ihre Fortschritte, besonders im Zeichnen, scheinen bedeutend gewesen zu sein. Wirkliche Zöglinge sind nur die Kinder, die längere Haft zu verbüßen haben; andere hospitiren für die kurze Strafzeit. Auch den Erwachsenen wird an gewissen Tagen Unterricht ertheilt, wenn sie nicht, doch das gehört im preußischen Staate zu den Seltenheiten, lesen und schreiben können. Die Kinder erhalten in der Anstalt natürlich auch den zur Confirmation nöthigen Religionsunterricht.
Den interessantesten Anblick gewährt die sechste Abendstunde. Wir begeben uns nach der Gefängnißexpedition, um die Einlieferung der Gefangenen in Augenschein zu nehmen. Zuweilen werden funfzig eingebracht oder gestellen sich selbst, wenn sie kürzere Gefängnißstrafen zu verbüßen haben. Sind sie gehörig registrirt,
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 157. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_157.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)