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Seite:Die Gartenlaube (1855) 070.jpg

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855)

Bertram Morgenweg.
Eine wahre Geschichte aus alter Zeit.
I.

In alten Urkunden und Pergamenten vergraben findet sich noch manche alte vaterländische Geschichte, die es wohl werth ist, daraus hervorgeholt und den späten Nachkommen erzählt zu werden. Der Deutsche hätte nicht nöthig, in den Archiven und Bibliotheken fremder Länder und Zungen Belehrung und Unterhaltung zu suchen, wenn er nur überall daheim sich umsehen und das dort Gefundene nicht wieder in gelehrten Abhandlungen und Folianten verstecken, sondern in angemessener Form seinem Volke mittheilen wollte. Indem ich hierzu einen Versuch mache, fordre ich die Leser auf, mir durch lange Jahrhunderte zwar zurück zu folgen, aber dabei doch immer auf vaterländischem Boden zu bleiben.

Es ist die alte frei Reichstadt Lübeck, die wir miteinander an der Scheide zweier Jahrhunderte – des zwölften und des dreizehnten – betreten.

Lübecks Gründung fällt bis in das elfte Jahrhundert oder noch früher zurück. Durch die Vernichtung des wendischen Handels an der Nord- und Ostsee, mehr noch durch die Zerstörung von Bardewick 1189 durch Heinrich dem Löwen, Herzog von Sachsen und Braunschweig, ward Lübeck zumeist vergrößert und zu einer mächtigen Handelsstadt erhoben. Denn die Kaufleute von Bardeleben ließen sich mit ihrem Vermögen in Lübeck nieder und ihre Handelsverbindungen mit Skandinavien und Rußland erweiterten so den Handel Lübecks.

Die Lübecker besuchten häufig die liefländische Küste, an welche 1158 Kaufleute aus Bremen auf ihrem Handelsweg nach Wisby verschlagen worden waren und daselbst zuerst die Mündung der Düna entdeckt hatten. Sie gründeten dort Niederlassungen mit Bewilligung der noch heidnischen Bewohner. Sowohl ihre Frömmigkeit als auch der Vortheil, der ihrem Handel daraus erwachsen mußte, bewog die deutschen Kaufleute, die Einführung des Christenthums in Liefland zu betreiben, darum unterstützten sie die Bemühungen des Heidenbekehrers Meinhard auf das Thätigste. Der Papst machte es zu einer Angelegenheit der gesammten Christenheit, das Heidenthum in Liefland auszurotten, zu welchem Zweck ein geistlicher Ritterorden – die Schwertbrüder oder Schwertträger – gestiftet wurde, und Schaaren von Kreuzfahrern dort hinzogen, um die Heiden zu bekehren oder zu bekämpfen. Außer den schon daselbst früher gegründeten Niederlassungen, welche von den Heiden aber oftmals wieder zerstört wurden, entstand auch die Stadt Riga im Jahr 1200, wohin Albrecht, der dritte Bischof des neubekehrten Landes, seinen bischöflichen Sitz verlegte. Der Verkehr der deutschen Seestädte dahin wurde ungemein lebhaft, zumeist aber von Lübeck betrieben.

Zu denen, welche in Liefland große Handelsverbindungen hatten, gehörte auch Herr Meßmann, der zugleich einer der ersten Rathsherren der Stadt Lübeck und somit einer ihrer angesehensten Bürger war. Er hatte durch den Handel nach Rußland bereits unzählige Güter erworben, und dort eigne Niederlassungen gegründet, die von seinen Untergebenen, Dienern und Gesellen wohl verwaltet und hinwieder auch alle diese Leute von ihm selbst wohl gehalten wurden. –

Eines Tages, als Herr Meßmann in seinem mit alterthümlicher Pracht eingerichteten Zimmer auf weichen Polstern saß und sein einziges Kind, ein kleines goldlockiges Mädchen von vier Jahren, auf seinen Füßen schaukelte und mit wehmüthigem Lächeln in ihren noch unausgebildeten Zügen dem holden Ebenbild seiner Gattin nachspürte, welche ihm der Tod vor Kurzem geraubt hatte, ließ sich auf Herrn Meßmann’s „Herein“ und er erkannte in dem Eintretenden einen seiner Handelsdiener, welchen er schon seite einigen Tagen aus Liefland wieder zurück erwartet hatte. Der Diener war der Erste, welcher das rückkehrende Schiff verlassen hatte und an’s Land gestiegen war, um seinem Herrn vorläufigen Bericht über die angekommenen Waaren, den Gang der Geschäfte und der ganzen Reise abzustatten. Alles, was er zu sagen hatte, lautete zu Herrn Meßmann’s Zufriedenheit, und dieser verfehlte auch nicht, sie seinem Geschäftsführer zu erkennen zu geben. Dadurch zum Vertrauen aufgemuntert, fügte dieser hinzu:

„Wir bringen auch noch Etwas mit, wovon wir nicht wissen, ob wir es Eurer Großmuth allein oder einem hochwohlweisen Rath zur Aufnahme übergeben sollen. Wir stießen unterwegs auf die Trümmer eines gestrandeten und von Seeräubern geplünderten Schiffes, auf dem ein Knabe von zehn Jahren das einzige menschliche Wesen war. Sein Wimmern und Hülferufen lockte uns herbei, und wir nahmen den halbtodten Verlassenen mit auf unser Schiff. Ein heftiges Fieber erfaßte ihn nach der ausgestandenen Angst und Noth; wir dachten, er werde sterben, und unsere Rettung sei zu spät gekommen. Aber jetzt ist er auf dem Weg der Genesung, nur ist mit dem Fieber zugleich ihm jede Erinnerung an Früheres verschwunden – nur seinen Vornamen Bertram hat er noch im Gedächtniß behalten, sonst aber weiß er nichts aus seinem früheren Leben zu sagen, weder wem er angehört, noch wo er hergekommen. Nur daß sein Vater mit auf dem Schiffe gewesen und von den Seeräubern getödtet worden, haben wir aus seinen Fieberreden schließen können. Befehlt denn nun, was weiter mit dem Knaben geschehen soll. Die Christenpflicht gebot es uns, ihn mitzubringen, auch wenn dadurch Euch oder der Stadt eine Last erwachsen sollte.“

„Darum seid nur unbekümmert!“ sagte Herr Meßmann freundlich. „Da sei Gott für, daß wir uns nicht freuten, wenn einem armen Knaben das Leben gerettet worden! Bringet ihn nur getrost mit her in unser Haus – er soll hier ein freundliches Unterkommen und vielleicht eine liebe Heimath finden!“

Der Rathsherr sah nun die Briefe und Bücher durch, die sein Geschäftsführer ihm gebracht, indeß dieser wieder auf das Schiff zurückgeht, den Knaben zu holen und mit den Andern dort das Ausladen der Waaren anzuordnen. Kurze Zeit nachher tritt er wieder bei Herrn Meßmann ein, den Knaben an der Hand.

Ein prächtiger Junge von ebenmäßigem kräftigen Körperbau, jetzt nur ein Wenig abgezehrt und bleich von der überstandenen schweren Krankheit. Sein hochblondes, fast goldgelbes Har, das um die weiße Stirn sich ringelte und seine strahlenden, blauen Augen verriethen deutlich die norddeutsche Abkunft. Er stand ein Wenig schüchtern vor seinem neuen Herrn und Beschützer, und auch die liebreichen Worte desselben vermochten nicht, ihn aufzumuntern. Aber da das Töchterchen des Hauses, die kleine Mächthilde, ihre zarten Händchen nach ihm ausstreckte, ihn zutraulich an ihren Spieltisch führte und ihm all die kleinen Herrlichkeiten zeigte, die hier aufgestellt waren – da ward er plötzlich lebendig, beantwortete gesprächig Mächthilden’s kindliche Fragen, bauete ihr Spielzeug auf eine für sie neue Art mit Geschicklichkeit zusammen – und so hatten die beiden Kinder sich schnell mit einander verständigt und wurden nicht müde, zusammen zu spielen. Als am Abend Martha, die Wirthschafterin und Erzieherin, Mächthilde endlich zum Schlafengehen abholen wollte, sträubte sie sich erst lange dagegen und ließ es sich endlich nur gefallen, als ihr Vater zu ihr sagte:

„Bertram geht nicht fort, er kann morgen wieder mit Dir spielen!“

Da ließ sie sich endlich wegführen, nahm aber von Bertram herzlicher gute Nacht, als selbst von ihrem Vater und sagte:

„Aber Du mußt gleich morgen früh wieder mit mir spielen und darfst gar nicht fort!“

So blieb denn auch Bertram in Herrn Meßmann’s Hause und ward fast wie ein Kind desselben gehalten. Er ließ ihn in Allem unterrichten, was ein Knabe damals nur zu lernen hatte, wenn er später auch im Dienst des Handels sein Glück selbst in der Welt versuchen sollte. Bertram lernte fleißig und zeigte in tausend kleinen Zügen einen strebenden Geist, ein tiefes Gemüth, die größte Dankbarkeit gegen seinen Herrn und gegen Jedermann ein liebreiches Betragen. Jedermann glaubte, Herr Meßmann werde, da er selbst keinen Sohn hatte, den Knaben, über dessen Aeltern und Herkommen Nichts zu erfahren war, förmlich adoptiren – allein der Rathsherr hielt das für ein Unrecht an seiner Tochter und es auch sonst nicht gut für den Knaben, wie sehr er ihn auch liebte,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_070.jpg&oldid=- (Version vom 31.7.2018)