Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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manche ganz neue Nahrungsmittel, die früher theils gar nicht, theils nur wenig in Gebrauch waren, während der letzten hundert Jahre mehr und mehr in Aufnahme gekommen sind und gegenwärtig einen ziemlich bedeutenden Antheil zu dem Gesammtverbrauch von Lebensmitteln liefern. Dahin zählen wir namentlich die Kartoffel, die bis zum siebenjährigen Kriege ein kaum nennenswerthes Quantum der Verzehrung in Deutschland bildeten, seit der großen Hungersnoth der siebenziger Jahre aber in immer größeren Mengen angebaut ward und dermalen mindestens das Doppelte des Getreideverbrauchs beträgt. Mag immerhin dieses Nahrungsmittel vom diätetischen Standpunkte aus, namentlich als alleiniges oder vorwiegendes, gegründeten Bedenken unterliegen, so muß man doch sagen: ein minder gutes Nahrungsmittel ist immer besser, als gar keines, und die Kartoffel hat wenigstens das Verdienst, in Jahren des Getreidemangels uns vor förmlicher Hungersnoth zu schützen, wie solche in frühern Zeiten beim Mißrathen der Brotfrucht regelmäßig und oft in furchtbarster Gestalt auftrat. Und, wie sehr auch zu wünschen wäre, daß unsere Bevölkerung statt der 9 bis 10 Scheffel Kartoffeln, welche man auf den Kopf rechnet, und deren Nahrungsstoff etwa 2 Scheffeln Getreide gleichgestellt wird, lieber 2 Scheffel Getreide mehr verzehrte, so darf man doch nicht vergessen, daß, wie schon angeführt, der Verbrauch an Getreide noch mindestens ebenso groß ist, als solcher, so daß jene Masse Kartoffeln einen reinen Zuwachs an Nahrungsmitteln darstellt.
Wir gehen über von den nothwendigen Lebensbedürfnissen zu den angenehmen Lebensgenüssen. An Kaffee kamen noch gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts nicht mehr als 1 oder höchstens 11/2 Pfund auf den Kopf, und zwar in den Gegenden, wo dieses Getränk schon am Meisten üblich war und am Wenigsten durch die Concurrenz des Wein- und Biertrinkens zurückgedrängt ward. Heut zu Tage rechnet man im ganzen Zollverein, einschließlich der Bier und Wein trinkenden Länder, 21/2 Pfund auf den Kopf. In Preußen hat sich der Kaffeeverbrauch seit 1806 von 2/3 auf mindestens 4 Pfund gesteigert. Der des Thees betrug im vorigen Jahrhundert kaum 1/5 Loth auf den Kopf, gegenwärtig beträgt er wenigstens 1/2 Loth, freilich immer noch eine Kleinigkeit gegen das, was in England verbraucht wird, wo, um dies beiläufig zu erwähnen, schon zu Ende des vorigen Jahrhunderts 31 Millionen Pfund Thee eingeführt wurden, etwa tausend mal so viel, als zu Anfange desselben Jahrhunderts. An Zucker verbrauchte man in Deutschland vor etwa 70 Jahren ungefähr 11/2 Pfund per Kopf, d. h. den dritten Theil des gegenwärtigen Bedarfs. Auch die Weinconsumtion hat sich bedeutend gesteigert. in Preußen z. B. von 3/4 Quart (1806) auf 2 bis 21/2 Quart (1849). Vom Taback, den ein so großer Theil unserer Bevölkerung zu den Unentbehrlichkeiten des Lebens rechnet, wird gegenwärtig mindestens dreimal so viel als früher verbraucht.
Ueberaus groß ist die Steigerung des Verbrauchs derjenigen Bekleidungsstoffe, deren Benutzung sich vorzugsweise auf alle Klassen der Bevölkerung erstreckt. So ist der Geldwerth, den der Einzelne durchschnittlich für Leder ausgiebt, binnen 50 Jahren von 12 auf 27 Silbergroschen gestiegen, und während von baumwollenen Zeuchen zu Anfang dieses Jahrhunderts nur erst 3/4 Elle auf den Kopf kam, hat sich dieser Verbrauch bis auf 16 Ellen, also um mehr als das Zwanzigfache, gesteigert. Da nun auch die übrigen Kleidungsstoffe in ihrem Verbrauche nicht abgenommen, sondern, wenn schon weniger bedeutend, ebenfalls zugenommen haben (Tuch von 5/8 Elle auf 1 Elle, Leinwand von 4 auf 5 Ellen, Seide von 1/4 auf 2/3 Elle), so ist jene Thatsache jedenfalls ein erfreuliches Anzeichen dafür, daß die zahlreichste Klasse der Bevölkerung, die sogenannte arbeitende Klasse, sich gegenwärtig mehr als früher in den Stand gesetzt sieht, solche Stoffe zu kaufen und zu tragen.
Wenn schon dieses eine Beispiel darauf hinweist, daß die allgemeine Steigerung des Verbrauchs nothwendiger und angenehmer Lebensbedürfnisse keineswegs etwa blos den höheren Klassen zu Gute gekommen ist, sondern daß auch die untern ihren verhältnißmäßigen Antheil daran haben, so lässt sich dieser Beweis dafür auch noch auf andrem Wege directer und überzeugender führen. Obschon nämlich durch die vermehrte Bevölkerung einestheils das Angebot der Arbeit gestiegen, anderntheils die Nachfrage nach den nothwendigen Lebensbedürfnissen erhöht ist, so ergiebt sich dennoch bei einer unbefangenen, sorgfältigen Vergleichung des Ehemals und des Jetzt, daß das Verhältniß zwischen den Arbeitslöhnen und den Preisen der hauptsächlichsten Bedürfnisse der Arbeiter im Allgemeinen eher ein günstigeres als ungünstigeres geworden ist. Wir wählen, um dies zu erweisen, ein naheliegendes Beispiel. Ein Tagearbeiter in Leipzig erhielt vor ohngefähr hundert Jahren taxmäßig 5 Neugroschen den Tag; dafür konnte er sich nach den damaligen Marktpreisen folgende Quantitäten der ersten Lebensbedürfnisse kaufen: 2/3 Kanne Butter, 1/2 Schock Eier, 2 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 31/2-4 Pfund Kalb- oder Schweinefleisch, 105/12 Pfund Kernbrot, 1/20 Klafter weiches Holz. Gegenwärtig bekommt ein hiesiger Handarbeiter mindesten 10, sehr häufig 15 Neugroschen den Tag. Selbst bei den hohen dermaligen Preisen aller Lebensmittel erhält er für den erstern dieser Lohnsätze 1/2 – 2/3 Kanne Butter, 1/2 – 2/3 Schock Eier, 21/2 – 31/3 Pfund Rind- oder Schöpsfleisch, 4 Pfund Kalbfleisch, 12/3 – 2 Pfund Schweinefleisch, 10 – 11 Pfund Kernbrot, 1/14 – 1/18 Klafter weiches Holz. Schon bei diesem geringsten der heutigen Lohnsätze steht sich also der Arbeiter wenigstens ebenso gut, wie sein College vor hundert Jahren bei dem höchsten Tagelohn, das er erhalten konnte; denn, wir müssen dies hinzusetzen, der Arbeitslohn war damals nicht blos hier in Leipzig, sondern wohl allerwärts von Obrigkeit wegen streng festgesetzt und durfte selbst von den Arbeitgebern bei Strafe nicht überschritten werden. Nehmen wir nun aber vollends den, bei weitem häufiger vorkommenden höheren Tagelohn von 15 Neugroschen, so stellt sich heraus, daß der Arbeiter dafür fast durchweg entweder um die Hälfte mehr von den ersten Lebensmitteln, im Vergleich zu früher, verzehren oder sich etwas erübrigen kann. Daneben kommt noch in Betracht, daß andere Lebensbedürfnisse, wie namentlich alle Bekleidungsstoffe und überhaupt alle durch die menschliche Arbeit erzeugten Gegenstände, ganz bedeutend gegen früher billiger geworden sind, und daher auch, wie wir schon sahen, in ungleich größeren Mengen von der arbeitenden Klasse verbraucht werden. Das Verhältniß der Löhne in anderen Arbeitszweigen früher und jetzt haben wir hereits an einer andern Stelle (Nr. 32 des vorigen Jahrgangs) angedeutet. Auf eine Klasse der Arbeiter müssen wir noch etwas näher eingehen, weil man in der Regel annimmt, daß gerade diese Klasse durch den starken Bevölkerungszuwachs und das dadurch herbeigeführte massenhafte Angebot von Arbeitskräften vorzugsweise in ihrem Erwerbe bedrückt und in Dürftigkeit versetzt worden sei. Wir meinen die Arbeiter in der sogenannten Manufactur- oder Fabrikindustrie. Daß man hier nur zu häufig das allertraurigste Mißverhältniß zwischen Erwerb und Lebensbedarf, ja nicht selten die bare Unmöglichkeit antrifft, mit dem Ertrage des angestrengtesten Fleißes auch nur irgendwie auskömmlich und menschenwürdig zu leben, ist leider eine nicht abzuleugnende Thatsache. Nur täusche man sich darüber nicht, daß der Zustand dieser Bevölkerungsklasse auch in früheren Zeiten keineswegs ein besserer und zufriedenstellenderer war. Im Gegentheil müssen wir, der Wahrheit gemäß und auf Grund gewissenhafter geschichtlicher Forschungen bekennen, daß, wenn auch einzelne heruntergekommene oder durch besondere Conjuncturen gedrückte Gewerbszweige heutzutage ihren Arbeitern einen so kargen Verdienst abwerfen, als nur je früher vorgekommen sein mag (aber doch auch keinen kargeren), dagegen im allgemeinen Durchschnitt und nach der Mehrzahl der Gewerbe gerechnet, der heutige Arbeiterstand auch in der Fabrikindustrie, trotz seiner ungeheuern Vermehrung, sich dennoch eher besser als schlechter denn ehemals befindet. Es gab im vorigen Jahrhundert ganze Arbeitszweige (und noch dazu in größeren Städten), wo der Arbeiter im günstigsten Falle 2-3 Neugroschen den Tag, im ungünstigsten nur 1/2, ja 1/3 Silbergroschen verdiente, andere, wo der Allerfleißigste sich mit 8-10 Neugroschen in der Woche begnügen musste. Das ist freilich leidiger Trost für unsere armen schlesischen Weber und unsere sich kümmerlich nährenden erzgebirgischen Spitzenklöpplerinnen. Der Durchschnittsverdienst eines Spinners vor etwa 80 Jahren betrug 2/3 – 5/6 Thaler die Woche, und eine Familie von drei erwachsenen Personen konnte zusammen 2 – 21/2 Thaler erarbeiten. Heutzutage, wo das Spinnen fabrikmäßig, in geschlossenen Etablissements, betrieben wird, kann sich ein männlicher Arbeiter, je nach seiner Geschicklichkeit, von 21/6 Thaler bis zu 7 Thaler die Woche verdienen (im Mittel also wenigstens 3 Thaler), eine weibliche Arbeiterin 1 Thaler, so dass der Gesammtverdienst einer Familie von drei Personen auf’s Mindeste zwischen 4 und 5 Thalern beträgt,
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