Verschiedene: Die Gartenlaube (1855) | |
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den rasch nachwachsenden Generationen ein immer größerer Theil nur dazu bestimmt scheint, zu erproben, wie weit die Fähigkeit der menschlichen Natur reiche, zu entbehren, zu darben und zu leiden.
Solche oder ähnliche Klagen über das, angeblich in fortwährendem Wachsthum begriffene Mißverhältniß der Bevölkerungszahl zu den vorhandenen Nahrungs- und Erwerbsmitteln, über die daraus hervorgehende Massenarmuth und ihre schrecklichen physischen und moralischen Folgen vernimmt man heutzutage häufig nicht blos aus dem Munde derer, welche geflissentlich darauf ausgehen, durch solche Schilderungen die Gemüther für ihre Ideen einer allgemeinen Gesellschaftsreform empfänglicher zu machen und die dringliche Nothwendigkeit derartiger Reformen zu beweisen, sondern auch von Solchen, die kein derartiges Parteiinteresse, vielmehr nur das allgemeine Gefühl der Menschlichkeit oder die Sorge um die Zukunft der Gesellschaft leitet. Es geht indeß mit dieser, wie mit den meisten Behauptungen so allgemeiner und unbestimmter Art: sie werden aufgestellt, für wahr gehalten, nachgesprochen und fortgepflanzt, ohne daß man sich die Mühe nimmt, ihre Nichtigkeit zu prüfen. Weil man die, unleugbar vorhandene, und nicht selten gräßliche Noth in der Gegenwart vor Augen sieht, so vergißt man, ganz nur von diesem Bilde erfüllt, zu forschen, ob es denn früher anders gewesen, und weil man dicht neben jener Noth – allerdings ein tiefschmerzlicher Contrast Wohlstand und Luxus, die Kinder der fortschreitenden Kultur der materiellen Interessen, der Industrie und des Handels erblickt, so meint man, diese dafür verantwortlich machen zu müssen, daß, während Einzelne im Ueberflusse schweben, Andere darben, und vergißt dabei ganz, daß zu einer Zeit, wo diese materiellen und industriellen Interessen noch in ihren Anfängen waren und zum Theil ganz brach lagen, es an ähnlichen, ja an noch schroffern Contrasten zwischen Arm und Reich, zwischen Wohlleben und Dürftigkeit nicht fehlte.
Aber, wird vielleicht Mancher einreden, was hilft es, zu erforschen, ob diese jetzt auf uns lastende Massenarmuth auch schon früher dagewesen, oder nicht? Wird das Uebel dadurch gelindert, daß wir nachweisen, es sei kein neues, sondern ein sehr altes? Oder kann es den Nothleidenden in der Gegenwart einen Trost gewähren, wenn sie erfahren, daß vor ihnen schon andere Geschlechter ebenso gelitten und gedarbt haben?
Und dennoch ist eine solche Untersuchung von großem, nicht blos wissenschaftlichem, sondern auch praktischem Werthe. Wenn wir durch sie zu der Ueberzeugung gelangen, daß Noth und Elend früher, bei einer viel dünneren Bevölkerung unsres Vaterlandes, ebenso groß, ja zum Theil größer gewesen, als heut, wo wir an vermeintlicher Uebervölkerung leiden, so werden wir weniger besorgt das fortschreitende Wachsthum der Bevölkerung wahrnehmen, und nicht so leicht Rathschlägen Gehör geben, welche, eben aus einer falschen oder doch übertriebenen Angst vor den Folgen eines solchen Wachsthums, darauf hinarbeiten, dasselbe durch künstliche Maßregeln zu beschränken. Wenn wir erfahren, daß zu den Zeiten eines strenggeschlossenen Gewerbebetriebes die Klagen über Nahrungsmangel und erdrückende Concurrenz nicht weniger häufig und oft begründeter waren, als jetzt bei größerer Freiheit der Gewerbe, so werden wir nicht allzu vorschnell dem Geschrei nach Wiedereinführung jenes beschränkten Zustandes unser Ohr leihen. Wenn der Arbeiter den Beweis durch Zahlen geliefert erhält, daß die Einführung des Maschinenwesens und der großen geschlossenen Etablissements seine Lage nicht verschlimmert, vielmehr verbessert hat, so wird er nicht auf den für ihn selbst wie für die Civilisation gleich unheilvollen Gedanken verfallen, diese Maschinen zerstören und an deren Stelle wieder die Handarbeit setzen zu wollen. Und so glauben wir denn nichts Ueberflüssiges zu thun, wenn wir den Versuch wagen, durch eine Gegenüberstellung der heutigen mit den ehemaligen Erwerbs- und Nahrungsverhältnissen, zunächst in unserm Vaterlande Deutschland jene Klagen über die, angeblich durch die Fortschritte der materiellen Kultur und den beschleunigten Bevölkerungszuwachs herbeigeführte Noth und Armuth auf ihr rechtes Maß zurückzuführen.
Zu dem Ende suchen wir zunächst uns ein Bild von dem Verbrauch der gewöhnlichsten Lebensbedürfnisse in einer früheren Zeit im Vergleich zu der jetzigen zu machen. Sollte sich dabei ergeben, daß sowohl der Verbrauch der ersten Nothwendigkeiten des Lebens, als der Genuß gewisser zu dessen Annehmlichkeit gehörenden Gegenstände trotz der vermehrten Bevölkerung nicht ab-, sondern zugenommen habe, so würde dies ein erfreulicher Beweis dafür sein, daß die Kultur in ihrer Richtung auf die Beschaffung der Bedürfnisse für die menschliche Gesellschaft mit der Zunahme der Bevölkerung nicht blos Schritt gehalten, sondern dieselbe sogar überflügelt und gleichsam der Natur den Rang abgewonnen habe. Und so ist es in der That, wie die nachfolgenden Thatsachen beweisen, die wir den freilich nur dürftigen statistischen Quellen jener früheren Zeiten entnehmen. Fangen wir bei dem ersten und wichtigsten Lebensbedürfniß, dem Brotgetreide an, so müssen wir annehmen, daß im Allgemeinen die Erzeugung desselben in Deutschland seit etwa hundert Jahren sehr bedeutend zugenommen habe, indem damals der Gesammtertrag der einheimischen Getreideproduktion nach ziemlich glaubwürdigen Berechnungen kaum mehr als den eigenen Bedarf der Bevölkerung deckte, höchstens einen geringen Ueberschuß zum Verkauf in’s Ausland darbot, wogegen jetzt nicht allein eine um ohngefähr die Hälfte stärkere Bevölkerung davon ernährt, sondern auch ein ziemlich beträchtliches Quantum nach außen abgesetzt wird. Nach den höchsten Schätzungen der damaligen Zeit (die aber von gewichtigen Statistikern stark in Zweifel gezogen werden) hätte Deutschland in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts eine Kornausfuhr von etwa zehn Millionen Thalern gehabt. Heutzutage beträgt die Mehrausfuhr an Getreide nur allein im Zollverein einige 20 Millionen Thaler; die des ganzen Deutschlands ohne Oesterreich ward von dem bekannten Statistiker, Freiherrn von Reden, im Jahre 1845 auf 6 Millionen Scheffel Weizen, 6 Millionen Scheffel Korn, 1 Million Scheffel Gerste und 6 Millionen Scheffel Hafer veranschlagt, was einen Geldwerth von mindestens 30–40 Millionen Thalern repräsentirt.
Indeß, dieser Beweis der gestiegenen Mehrausfuhr von Getreide genügt allein für unsern Zweck noch nicht; denn es könnte ja sein, daß nur um deswillen jetzt mehr ausgeführt würde als früher, weil das Preisverhältniß des Getreides im Auslande ein günstigeres wäre, als im Inlande, mit andern Worten, weil die inländische Bevölkerung zu wenig Mittel besäße, um ein größeres Quantum von dem lm Inlande erbauten Getreide kaufen zu können, daher, trotz des vorhandenen Ueberflusses, sich doch nur dürftig zu nähren vermöchte. Allein auch dieser Einwand wird verstummen müssen, wenn sich zeigt, daß der Verbrauch der inländischen Bevölkerung, nach Köpfen gerechnet, wenn nicht gestiegen, doch auch nicht gesunken ist, wo sich dann nothwendig der Schluß ergiebt, daß die vermehrte Bevölkerung in Bezug auf dieses erste Lebensbedürfniß sich mindestens nicht schlechter befinde, als die frühere, dünnere. Und auch dieser Beweis läßt sich führen. Abgesehen von den Berechnungen einzelner Statistiker der neueren Zeit, welche eine bedeutende Vermehrung des Verbrauchs von Getreide in Deutschland annehmen, liegen uns die, jedenfalls sehr sorgfältigen und auf Glaubwürdigkeit in hohem Grade Anspruch machenden Ermittelungen des statistischen Büreaus in Berlin über die Verzehrung von Brotkorn in den letzten fünfzig Jahren vor, und diese ergeben, daß in den Jahren 1806, 1831, 1842 und 1849 gleichmäßig vier Scheffel Korn auf den Kopf kamen. Hiernach ist klar, daß die vermehrte Ausfuhr von Getreide in der Gegenwart ein wirklicher Ueberschuß ist, herrührend von einer bessern Bebauung und Fruchtbarmachung des Bodens, so daß also schon bei dem gegenwärtigen Stande dieser Kultur nöthigenfalls selbst eine noch größere Menschenmenge ausreichend ernährt werden könnte. Daß wirklich die Benutzung des Bodens zur Gewinnung von Lebensmitteln sowohl Ausdehnung als ihrer innern Vollkommenheit nach in höchst erfreulichem Grade zugenommen hat, zeigt nicht nur ein Blick auf die in den letzten 50 bis 60 Jahren allerwärts vorgenommenen Verbesserungen. Gemeinheitstheilungen, Zusammenlegungen von Grundstücken, vervollkommnete Betriebsmittel und rationellere Arten der Bewirthschaftung, sondern es liegen auch darüber einzelne unzweideutige Angaben vor. So z. B. ward im Kurhessischen bei der im Jahre 1764 vorgenommenem Katastrirung der Rohertrag eines Ackers bester Qualität zu 281/2 Metze berechnet, während man ihn jetzt auf mindestens 41 Metzen, d. i. ungefähr noch einhalb Mal so viel veranschlagt.
Ein zweites wichtiges Lebensbedürfniß ist das Fleisch. Dessen Verbrauch hat sich in den letzten 50 Jahren (nach den oben angeführten zuverlässigen Ermittelungen) von 33 Pfund per Kopf auf 40 Pfund, also um beinahe 23 Prozent, gehoben.
Wir dürfen dabei nicht außer Acht lassen, daß auch noch
Verschiedene: Die Gartenlaube (1855). Leipzig: Ernst Keil, 1855, Seite 63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1855)_063.jpg&oldid=- (Version vom 31.1.2023)